Wer sich in den letzten Wochen durch die Leitartikel mühte, ist unweigerlich auf Begriffe wie "Wutbürger" und Schilderungen von Politikverdrossenheit gestoßen, die meist in die Forderung nach mehr Wähler-Mitentscheidung mündeten. Die verstärkte Einbindung der Bürger ist zu einem modischen Verlangen geworden. Vorschläge für Volksbegehren oder -entscheide gelten als Mittel gegen die Krise unseres Parlamentarismus.
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Mit der Forderung nach Plebisziten verbindet sich die Überzeugung, dass es sich bei der direkten Demokratie zugleich um die bessere, die eigentliche Demokratie handelt. Das aber ist entschieden zu bezweifeln.
Erstens zeigt die Bevölkerung, wenn man ihr demoskopisch auf den Zahn fühlt, bei aller deklamierten Forderung nach Mitbestimmung ein recht mäßiges Verlangen danach. Groß ist dieses nur bei der Zuwanderungs- und Asylpolitik, beim Bau von Kraftwerken, bei der Wahrung österreichischer Rechte in der EU, bei der Pensionsregelung und bei den Sozialgesetzen. Im Grunde haben die Wähler wenig Lust, den Politikern die historische Verantwortung abzunehmen.
Ein zweiter Einwand besteht darin, dass sie komplizierte Sachverhalte auf dichotome Entscheidungen reduziert. Vereinfacht ausgedrückt hat der Bürger in Volksabstimmungen nur die Wahl zwischen heiß oder kalt, schwarz oder weiß. Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie erlaubt die plebiszitäre keine Zwischentöne. Ja-Nein-Entscheidungen mögen bei wenigen Schwerpunktproblemen berechtigt sein - für die Mehrzahl der Probleme taugen sie nicht.
Dritter Einwand: Die Beteiligung an Volksentscheiden ist nach bisheriger Erfahrung sehr gering und daher unrepräsentativ.
Vierter Einwand: Volksabstimmungen sind ein einbahniges System der Entscheidungsfindung, bei dem der eine Teil die Frage stellt und der andere antwortet. Es fehlt ein vorausgehender Dialog.
Nie sollte sich direkte Demokratie im Protest und beim Blockieren von parlamentarischen Entscheidungen erschöpfen.
Ungeachtet aller Bedenken ist jenen zuzustimmen, die für das Einfließen von plebiszitären Elementen in die repräsentative Demokratie sind. Ohne Zweifel könnte dabei die repräsentative Umfragemethode einen wesentlichen Beitrag leisten, kann sie doch mehr, als nur Sympathiewerte von Politikern und Parteien zu ermitteln.
Welche Rolle spielen die heutigen Politiker? Bei der Suche nach einer Antwort lohnt sich der Blick auf eine aktuelle Imas-Studie, die sich mit den vermeintlich besten Kanzlern der Nachkriegszeit beschäftigte. Die höchste Wertschätzung genießt Kreisky vor Figl, Raab und Renner. Die Kanzler der jüngeren Vergangenheit haben hingegen geringen Stellenwert.
Bei der Auswertung der Umfrage stieß Imas auf die bemerkenswerte Tatsache, dass sowohl Kreisky als auch Figl und Raab auch bei Wählern des gegnerischen Lagers eine überdurchschnittlich hohe Wertschätzung besitzen. Sie verkörpern bei allen Gegensätzen offenkundig einen Typus von Politiker, der in der Gegenwart vermisst wird. Vielleicht ist das, was den roten Sonnenkönig mit den ÖVP-Kanzlern verbindet, die Führungsfähigkeit und der Eindruck, in der Politik klare Konzepte zu verfolgen.
Fazit: Was die Bevölkerung weit lieber hätte als Plebiszite, sind kraftvolle, ideenreiche, prinzipientreue, durchsetzungsfähige Persönlichkeiten. Aber wo sind die?
Der Autor ist Leiter des Imas-Meinungsforschungsinstituts.