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Direkter Sprung vom 7. ins 21. Jahrhundert

Von Antje Döhring

Politik

Saudi-Arabien - das ist für die Bewohner des Okzident gleichbedeutend mit Kamelen in endloser Wüste, Mekka-Pilgern und vor allem einem: Reichtum durch Erdöl. Doch die Reserven sind nicht unerschöpflich, auf den Weltmarktpreis kein Verlass. Das zentralarabische Königreich steht deshalb vor der Frage: Wie soll es in Zukunft weitergehen?


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In den 30er-Jahren wurden die ersten Petroleumquellen in dem bis dahin völlig rückständigen und abgeschotteten Land auf der Arabischen Halbinsel entdeckt. Damit begann eine beispiellose Entwicklung des Königreichs. Straßen und Städte wurden gebaut, viele der bis dato meist noch als nomadisierende Beduinen lebenden Familien zogen in moderne Häuser um, die ihnen meist kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Die wirtschaftliche Anbindung an den Rest der Welt kam geradezu explosionsartig über die Wüstenbewohner. Gegenwärtig wird die Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO betrieben.

Doch trotz all dieser Neuerungen der Industriegesellschaft bewahrten sich die Saudis mit ihrer streng aufgefassten Auslegung des Islam als Grundmuster für den Alltag ihre Traditionen und zwar genau jene, welche sie bereits seit den Zeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert gepflegt hatten. Noch heute leben Frauen und Männer außerhalb der Familie strikt getrennt voneinander. Die saudischen Frauen sind von Kopf bis Fuß vollständig unter weiten, schwarzen Schleiern verborgen, während die Männer ein langes weißes Hemd (Thobe) mit der weißen oder rotweißen "Guthra" auf dem Kopf tragen. Zu den offiziellen Gebetszeiten schließen alle Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen. Die Moderne wird hier der Tradition angepasst, nicht umgekehrt.

Herzland des Islam

Und doch - die Veränderungen im Alltag sind nicht zu übersehen. Das Herzland des Islam steht am Scheideweg. Geht man jetzt in einen der prächtigen Supermärkte in den Städten, kann es passieren, dass an der Kasse ein Saudi steht und die Preise eingibt. Kein Inder, kein Philippino?, wundert man sich. Noch vor kurzer Zeit wäre dies undenkbar gewesen. Doch könnte das ungewohnte Bild die Zukunft des Landes zeigen. Auch wenn sich die Vorstellung vom sagenhaften saudischen Luxus in westlichen Hirnen festgesetzt hat: trotz allgemein recht hohen Lebensstandards leben im "Land der tausend Prinzen" höchstens noch diese in märchenhaftem Überfluss. Nach einer kürzlich unter Großstadtbewohnern erhobenen Studie der König-Saud-Universität haben 51 Prozent der Familien überhaupt kein festes Einkommen, weitere vierzig Prozent verdienen nicht mehr als 6000 Saudiarabische Rial (entspricht 24.200 öS) pro Monat. Mehr war bis dato offenbar nicht nötig - der Ölreichtum des Landes ließ das regierende Königshaus Saud seinen Untertanen gegenüber sehr großzügig mit der "Schatzkammer" umgehen. Beihilfen und Unterstützungen jeglicher Art für die Landeskinder machten diesen das Leben leicht.

Bislang zeichneten die Saudis ausschließlich als Eigentümer von Läden, Firmen usw. verantwortlich und kassierten die Gewinne. Die "Arbeit" hingegen als Verkäufer, Sekretär, Facharbeiter, Taxifahrer, Bauarbeiter oder Reinigungskraft verrichtet ein Gastarbeiterheer von etwa 3 Millionen, hauptsächlich Ostasiaten. Das Know-how in der Wirtschaft und Industrie liefern zahlreiche westliche Experten. So floss im Lande verdientes Geld reichlich in ausländische Geldbörsen. Nun gibt es einen gegenläufigen Trend. Das dieser Tage ständig in der saudischen Gesellschaft präsente Stichwort dafür heißt "Saudisierung" - das schrittweise Ersetzen ausländischer durch einheimische Arbeitskräfte. Doch bis die Vision Wirklichkeit wird, welche Kronprinz Abdallah unlängst entwarf, wird es wohl noch eine Weile dauern: Saudis in Jobs aller Art, als Klempner, Automechaniker oder Schreibwarenverkäufer. Von solchen mit Handarbeit verbundenen Berufen fühlen sich junge Saudis nicht gerade angezogen. Leitbild ist nach wie vor eher der vornehme Ölbaron mit der teuren Uhr und dem ständig bimmelnden Handy.

Noch immer resultieren ca. 70 Prozent der Staatseinkünfte aus dem Erdölgeschäft. Wie unerfreulich sich diese Einseitigkeit auswirken kann, musste das Land feststellen, als 1998 die Weltmarkt-Rohölpreise auf extrem niedrige 13 US $ pro Barrel abfielen - dem niedrigesten Niveau seit 1973. Mit Staatsschulden, die sich nun auf rund 110 Prozent des Bruttosozialprodukts belaufen, sind die zu stopfenden Löcher nicht unerheblich.

Das bekommen die Bewohner des Wüstenlandes zu spüren: Waren Güter wie Elektrizität, Trinkwasser oder Benzin für die Saudis bisher entweder frei oder aber stark subventioniert, stieg beispielsweise der Kraftstoffpreis innerhalb von zwei Jahren auf mittlerweile über das Doppelte. Krankenversicherungen sollen Pflicht werden: Vorher war man entweder in den staatlichen Einrichtungen kostenlos behandelt worden oder bezahlte in privaten Arztpraxen gleich in bar.

Wenn die "Adern" des arabischen Reichs die sich quer durchs Land schlängelnden Erdölpipelines sind, schlägt das industrielle "Herz" an zwei Orten gleichzeitig: Dschubeil am Arabischen Golf, wo das "schwarze Gold" aus dem Sand sprudelt, und die Schwesterstadt Yanbu mit dem Hafen am Roten Meer wurden Mitte der 70er-Jahre auf dem Reißbrett entworfen. Seitdem wird dort das Rohöl verschifft oder in der Chemischen Industrie weiter verarbeitet. Die riesigen, hochsicherheitsbewachten Raffinierie-Giganten erwirtschaften den Löwenanteil des saudischen Industriekapitals. Doch das ist zu monoökonomisch. Um sich in Zukunft unabhängiger vom Ölmarkt zu machen, unternimmt das Land schon seit einigen Jahren Anstrengungen, die Wirtschaft zu diversifizieren. Waren in der Vergangenheit alle wichtigen Unternehmen staatlich, setzt die saudische Wirtschaft nun gezielt auf flexible Privatfirmen.

Geschäfte im Zelt

Issam A. Kelthoum ist Kopf des privaten Chemieunternehmens "Crystal", welches Titandioxid herstellt, einen Ausgangsstoff für alles, was "weiß" aussehen soll - von der Zahncreme bis hin zum Papier. Er residiert in einem Chefbüro besonderer Art: Gleich hinter dem Eingang steht unter Dattelpalmen ein typisch braun-weißes Beduinenzelt. Drinnen allerdings ist das nomadische Ambiente bereichert durch modernstes Equipment. Kelthoum erklärt: "Das Zelt ist für uns ein kulturelles Symbol, das verdeutlicht, wie unsere Organisation wirkt. Eingebettet in unsere kulturellen Traditionen arbeiten wir mit modernsten Mitteln: Dieses Zelt ist vernetzt mit der ganzen Welt!", ruft er aus und macht eine allumfassende Armbewegung. "Wir haben Telefon, Fax, Internet-Anschluss, sogar ein analoges firmeninternes Kommunikationssystem - hier, im Zelt aus Ziegenhaar, läuft alles zusammen. Hier können wir zeigen, dass wir stolze Araber sind, die ihren eigenen Weg gehen. Denn wir denken, dass es für uns möglich ist, in einem umkämpften Weltmarkt zu bestehen. Wir wollen kein ausländisches Management kopieren, sondern unser eigenes durchsetzen."

Einen zusätzlichlichen Anschub für die schwächliche einheimische Ökonomie erhoffen sich die Experten jetzt vom im April verabschiedeten neuen Investitionsgesetz. Danach können - erstmalig in den GCC-Staaten - auch ausländische Interessenten in Saudi-Arabien Immobilien und Boden erwerben. Vor allem aber erhalten sie nun die Möglichkeit zur Firmengründung auch ohne den bisher zwingend notwendigen saudischen Partner, "Sponsor" genannt. Anfang des Jahres gab es 1600 solcher joint ventures mit Beteiligung von 64 Staaten und einem Gesamtvolumen von 50 Mrd. US $.

In den vergangenen sechs Monaten schlossen österreichische Firmen mehrere Großprojekte in Saudi-Arabien ab, so die Firma Doppelmayr Schwebebahnen und Voest Alpine Industrieanlagenbau das Flachstahlwerk Hadiht II. Die Fa.VA-Tech Elin lieferte Transformatoren, überdies gab es diverse Maschinenlieferungen in den Bereichen Kunststoff-, Nahrungsmittel- und Textilindustrie. DOKA-Schalungsspezialisten waren u.a. am Faisahlia-Centre beteiligt, welches jüngst im Herzen von Riad eingeweiht wurde; der zugehörige, 267 m hohe gläserne Turm gilt als der erste Wolkenkratzer des Landes. Überdies sollen fremde Investoren damit angelockt werden, dass 15 % der Steuern (insgesamt bis zu 45 % bisher) auf Gewinne über 100.000 Saudarabische Rial (1 SR entspr. 4 öS) erlassen werden. Dies könnte nicht zuletzt der Reisebranche zu Gute kommen.

Einen großen Anteil an der Diversifizierung der saudischen Wirtschaft soll nämlich der Ausbau des touristischen Sektors erhalten. So investierte das Königreich bereits seit 1995 umgerechnet 6,66 Mrd. US $ in entsprechende Projekte, die außerdem das Interesse an Binnenreisen ankurbeln sollen.

Ein bedeutsamer Schritt war deshalb Anfang 1999 die Ankunft der ersten nicht-moslemischen Reisegruppe aus Europa. Bis zu diesem Tag hatte sich das Königreich als Hüter der beiden Heiligen Städte Mekka und Medina freiwillig vom Rest der Welt isoliert; Visa waren nur den Arbeitskräften erteilt worden. Das kürzlich verabschiedete neue Tourismusgesetz soll nun verstärkt westliche Reisegruppen anziehen. Wer die stengen Sitten in Kauf nimmt und respektiert, dass es in Saudi-Arabien keinerlei Alkohol gibt und die Frauen sich in die lange schwarzen "abahja" hüllen müssen, wird mit touristisch noch jungfräulicher Ursprünglichkeit belohnt. Zu bieten hat das Land nämlich eine Menge, was Entdeckungsfreudige locken könnte: Mondäne Hotels, die größte zusammenhängende Sandwüste der Welt, ein traumhaft unberührtes Korallenriff entlang der Küste des Roten Meeres, schroffe Gebirge, archäologische Kleinodien, orientalische Basare wie im Märchen. Bisher ist all dies aber kaum erschlossen.

Ein Problem bei der Umgestaltung der saudischen Wirtschaft in eine mit hauseigenen Arbeitskräften resultiert aus jahrhundertealten Lebensweisen, welche nicht von heute auf morgen umzukrempeln sind. Noch vor gut vierzig Jahren lebten die meisten als Nomaden. Zeit spielte keine Rolle, man traf sich beispielsweise "nach Sonnenuntergang". In einer modernen Gesellschaft hingegen wird Pünklichkeit auf die Minute erwartet. Junge Saudis, welche sich diesen Erfordernissen angepasst haben, beschämen oft selbst die für ihre Überpünklichkeit bekannten Deutschen. Aber viele nehmen es nicht so genau. Niemand wird dies gänzlich verdammen können. Zu gewaltig sind die Veränderungen auch in dieser Beziehung in einer Gesellschaft, die sich innerhalb nur einer Generation vom 7. ins 21. Jahrhundert katapultierte.

Ahmed B. Bogari, saudischer Marketing-Manager einer einheimischen Fluggesellschaft, jedoch bedauert, dass viele junge Landsmänner sich nicht für die Arbeit im Reisebüro erwärmen können: "In diesem Geschäft wird halt in Morgen- und Abend-Schichten gearbeitet, doch das passt vielen jungen Saudis nicht, deren Lebensstil einen Großteil Geselligkeit einschließt. Sie finden es unannehmbar, abends zur Arbeit zu kommen anstatt die Zeit mit Familie oder Freunden zu verbringen." Bogari sagt, Saudis bevorzugten eine Arbeit in staatlichen Büros, weil es da nur eine Schicht von 7.30 Uhr bis 14.30 Uhr gibt. Außerdem läge das Anfangsgehalt in der Reisebranche bislang um 2.500 Saudiarabische Rial (rund 10.000 öS), während Saudis zumeist 4000 SR für den Anfang erwarteten.

Auch deshalb liegt trotz der eingeführten "Saudi-Quote" die Zahl der beruftstätigen Saudis bei nur ca. 35 %. Oft fehlt zudem die nötige Qualifikation; doch das liegt weniger an den Jobsuchenden selbst. Das System Berufsausbildung gibt es bis jetzt so gut wie noch nicht. Der einzige fortführende Bildungsweg nach der Highschool ist im Wüstenstaat die Universitätsausbildung. Und selbst mit einem Diplom in der Tasche ist es für den Absolventen schwer, ins Arbeitsleben einzusteigen: Eine "mindestens fünfjährige Praxis" in einer vergleichbaren Position wird in allen Jobofferten gefordert. So liegt eine Menge an Potenzial junger Leute weiterhin brach. Und auch Firmen sind - trotz Geldstrafen für solche, die weniger als 10 % Einheimische beschäftigen - oft zögerlich bei der Einstellung von Saudis. Sie wissen, dass deren Einstellung zum Job nun mal keine westliche ist und diese Angestellten öfters zwischendurch den Arbeitsplatz verlassen. Nicht unbedingt immer freiwillig. Aber die islamischen Traditionen, die gleich einem Netz das gesamte öffentliche wie auch das Alltagsleben der Saudiaraber umspinnen, verlangen das von ihnen.

Beispielsweise dürfen Frauen in Saudi-Arabien nicht selbst Autofahren. Sobald also eine Ehefrau, Mutter, Schwester oder Tochter aus der weitläufigen arabischen Familie in den Supermarkt einkaufen, Verwandte besuchen, zum Friseur oder Arzt will, benötigt sie jemanden, der sie hin- und zurückfährt. Und das sind die männlichen Familienmitglieder...

Schleier und Handies

Trotzdem leben die saudischen Frauen keineswegs so depressiv unter ihren Schleiern verborgen und "hinter dem Mond", wie man sich das oft ausmalen mag. Handies und Palmtops gehören für viele zum Alltag. Die Hälfte der Studenten ist heute auch im zentralarabischen Königreich weiblich, die Regierung ermutigt sie zum Schritt ins Berufsleben. Nicht von ungefähr, denn die ökonomisch für das Land notwendig gewordene Saudisierung kann auch die Frauen nicht ausklammern, die 51% der Bevölkerung ausmachen. Da die Geschlechtertrennung jedoch viele Jobs mit Publikumsverkehr für die weiblichen Arbeitnehmer ausschließt, begrenzen sich die Möglichkeiten bisher noch vor allem auf die Bereiche Pädagogik und Gesundheitswesen. Da seit Beginn vorigen Jahres mit der Einführung des (zensierten) Internets im Königreich nun auch hier die Bildschirmarbeit an Bedeutung gewinnt, eröffnen sich viele neue Möglichkeiten für Saudiaraberinnen. Immerhin gehören selbst heute schon fast 1.500 Firmen einheimischen Unternehmerinnen, das sind 27 %. Dass es bei der Geschlechtertrennung im Berufsleben auch schon Ausnahmen gibt, beweist beispielsweise Dr.Wafaa Faquih, Gynäkologin am König-Abdulaziz-Universitätshospital. Die junge Ärztin leitete ein "gemischtes" Team, das am 6. April dieses Jahres in Dschiddah die welterste Uterus-Transplantation ausführte.