Metropolen wie Paris, London oder New York ähneln immer mehr Museen: Millionen Touristen wandeln durch urbane Räume wie durch Themenparks.
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Das Pariser Café de Flore im Quartier Saint-Germain-des-Prés ist eine Institution. Literaten wie Charles Maurras und Jean-Paul Sartre gingen hier ein und aus, Künstler wie Pablo Picasso oder Boris Vian verkehrten dort ebenso. Im Flore schrieb Sartre große Teile seines Werks "L’Être et le Néant" ("Das Sein und das Nichts"), wo zwei Seiten dem Café gewidmet sind. Das Flore war das Wohnzimmer der Pariser Intellektuellen. Heute wird das Café hauptsächlich von Touristen frequentiert. Neureiche Russen in Pelzmänteln, Bobos aus der Provinz und lateinamerikanische Austauschstudenten der Hochschule Sciences Po trinken Kaffee für 5,50 Euro, essen einen überteuerten Kuchen für 15 Euro und sonnen sich im Glanz der Vergangenheit.
Das Café de Flore ist zu einer Touristenattraktion geworden, man möchte fast sagen: verkommen. Eine Institution für Leute, die im Rückspiegel der Geschichte Selfies im Hier und Jetzt schießen. Die Rivalität mit dem Deux Magots ist nur noch Folklore.
Fassadenhaft
Das Café de Flore steht nicht allein, sondern spiegelt einen Trend wider, den Soziologen zuweilen als die "Disneyfizierung" der Städte bezeichnen. Der urbane Raum degeneriert zum Themenpark. Man läuft durch Attraktionen, die spektakulär und nett anzusehen sind, aber doch fassadenhaft und substanzlos bleiben.
Jedes Jahr fluten 20 Millionen Touristen die Altstadt von Venedig. Wenn sie in der Lagunenstadt ankommen, wissen die Besucher zuweilen gar nicht, ob sie die Piazzale Roma erreicht haben, und fragen, ob dies eine Piazza oder ein Parkplatz sei. Der Markusplatz ist zum Fotomotiv erstarrt.
Auch die Hamburger Reeperbahn, einst der Sündenpfuhl der Stadt, ist nur noch ein Abziehbild früherer Tage. Seefahrer und eingefleischte St. Paulianer bevölkern die einschlägigen Etablissements schon lange nicht mehr, abends haben Touristen die Oberhand. Es gibt Spötter (unter ihnen auch Soziologen), die sagen, die Stadt müsse die Prostituierten dereinst selbst beschäftigen, um die Reeperbahn als Themenpark und Amüsement aufrechtzuerhalten. Es ist mehr Schein als Sein.
In den USA ist mit Celebration eine ganze Planstadt mit historisierender Inszenierung und modernem Serviceangebot entstanden. Das Klischee von Amerika als einer kulturlosen Plastikwelt hält sich hartnäckig. In Peking werden chinesische Touristen zu Hunderttausenden durch Teile der "Altstadt" getrieben, wo sie eine Retortenversion von Alt-Peking sehen. In Datong, einem strategischen Zentrum der Ming-Dynastie, wurden die Mauern der fortifizierten Stadt dergestalt rekonstruiert, dass es Kritiker als "Fake-Relikte" bezeichnen.
Die Gefahr ist, dass eine Illusion von Historizität entsteht und die Authentizität verloren geht. Einst lebendige Gebäude drohen musealisiert zu werden. Schon Frankreichs Präsident Georges Pompidou warnte, dass Paris keine "Museumsstadt" werden dürfe: "Paris ist kein Museum."
Das betrifft neben der Funktionalität der Institutionen - ist Sacré-Cur eine Sühnekirche oder eine Pilgerstätte für Touristen? - auch die Interaktion der Bürger mit Touristen. Dean MacCannell, emeritierter Professor für Landschaftsarchitektur an der UC Davis und Autor des Buchs "The
Ethics of Sightseeing", sagt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "In vielen Communities rund um den Globus verändert sich das soziale Leben durch die Präsenz von Touristen. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo die Leute in ihre Gemeinde hineingeboren wurden, dort aufwuchsen, Familien gründeten und starben. Heute, mit den transnationalen Massenbewegungen von Migranten, Flüchtlingen und Touristen, haben die Bewegungen und physischen Verdrängungen das Gefühl von Örtlichkeit fundamental verändert."
Der Tourismus übe Druck auf die Orte aus, die ihre historischen Narrative, Moralität und traditionellen Linien soziokultureller Differenz neu definieren müssen. Die zentrale Frage sei, ob Touristen und Migranten von der lokalen Ökonomie willkommen geheißen werden oder abgelehnt werden, weil sie die Alteingesessenen von "ihrem" Ort entfremden ("displacing"). Wissenschaft und Städteplaner vermögen diese Frage kaum zu beantworten, weil die Kernkonzepte wie Ort, Zentrum und Peripherie veraltet seien und einer Revision bedürfen, so MacCannell.
Locals & Outsider
"Wir müssen aufhören, von Orten als zusammenhängender Entität zu denken. Stattdessen müssen wir place als einen Ort begreifen, der einen kontinuierlichen Dialog zwischen Einheimischen, Touristen und Einwanderern repräsentiert." Interaktionen zwischen Locals und Outsidern könnten durchaus positiv sein und auch befruchtend wirken. "Wenn ein Tourist ins Café de Flore kommt und eine Konversation mit einem Ortsansässigen über Sartre oder den Existenzialismus anfängt, kann etwas Neues und auch Wertvolles entstehen."
Wenn ein Tourist dagegen in eine nostalgische Rekonstruktion eines "Philosophencafés" geht, das von Starbucks errichtet wurde, würde daraus abgesehen von einem ökonomischen Austausch wenig entstehen. Das moderne, post-touristische Subjekt mache den Raum zu einem Subjekt. Es ist kein passiver Konsumraum, sondern ein aktiver "Erschaffer neuer Räume und räumlicher Bedeutungen".
Die eigentliche Frage, die sich beim Café de Flore stellt, ist: Wenn man alles oder fast alles entfernte, würde Sartre dann immer noch reingehen? Schon zu seinen Lebzeiten weilten unter den Gästen Touristen. Würden ihn die Besucher erkennen? Vermutlich würde es den Existenzialisten ins hippe 11. Arrondissement verschlagen, vielleicht wäre aber der Pariser Kosmos schon zu sehr von bourgeoisen Gestalten und Hipstern bevölkert.
Das Café de Flore ist faktisch ein Museum. Auch die Altstadt von Venedig ähnelt einem Mu-seum: Die Touristen bestaunen die Gebäude als historische Artefakte und fragen, wie lange "es" (ja was eigentlich?) noch geöffnet hat. Als ob es sich um einen Vergnügungspark handelte. Die ita-lienische Staatssekretärin im Kulturministerium, Ilaria Borletti Buitoni, erwog gar die Einführung einer Gebühr für Tagesbesucher. Dies käme einem Museumseintritt gleich.
"Edutainment"
Das Interessante an der Entwicklung ist, dass Museen heute keine Museen mehr sein wollen. Das Nausicaa Sea Center im französischen Boulogne-sur-Mer etwa präsentiert sich in einer Pressemappe "weder als Museum noch Aquarium", sondern als ein "Ort zum Lernen und Träumen". Und das Paléosite in Saint-Cézaire wird als "neues, interaktives Konzept" vermarktet, "das der Prähistorie gewidmet ist und Bildung und Spaß verbindet, ohne die statischen Sammlungen, die typisch für Museen sind". Kontemplation war gestern, Erlebnis ist heute. Unter dem Rubrum "Edutainment" versuchen Städte, Orte "erlebbar" zu machen, sie zugänglich zu machen für eine reizüberflutete Facebook- und Playstation-Generation.
Der Philosoph Jean Baudrillard nannte Disneyland den realsten Ort in den USA, weil er nicht vorgibt, mehr zu sein, als er eigentlich ist, nämlich ein Themenpark. In seinem Essay "Simulations" schreibt er: "Disneyland wird als imaginär präsentiert, um uns glauben zu machen, dass der Rest real ist." Dabei sei der ganze Rest nicht mehr real, sondern hyper-real. In der Hyperrealität haben die symbolischen Ordnungsmuster ausgedient.
In seinem Buch "Fantasy City: Pleasure and Profit in the Postmodern Metropolis" (1998) argumentiert der Soziologe John Hannigan, dass mit dem Abzug von Produktionsstätten aus den Zentren und der damit einhergehenden De-
industrialisierung Städtebauer versuchten, Fabriken zu ersetzen und dabei zwei Inspirationsquellen zum Vorbild nahmen: Las Vegas, die Kasinostadt, und Orlando, die Themenparkstadt. Beide liefern die Blaupause für profitable und gleichsam kontrollierbare urbane Räume. Das führt dann zu Flaggschiff-Architektur-Ikonen wie dem Guggenheim-Museum oder dem Sydney Opera House. Das Guggenheim-Museum, das vom Stararchitekten Frank Gehry entworfen wurde, war auch nur von außen ein Museum - innen gab es nicht viel Kunst. Insofern kehrt sich die Musealität heute nach außen. Die Touristen spazieren durch diese Museumslandschaft wie durch einen Themenpark.
Privatisierte Zentren
"Indem Städte mehr und mehr wie Vergnügungsparks werden, werden sie auch immer mehr privatisiert und gesichert", sagt Soziologe Hannigan im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Folge: Die ärmeren Bevölkerungsschichten werden aus den Zentren verdrängt, die Amtsgeschäfte übernehmen private Konzerne wie World Disney oder Business Improvement Districts - ohne demokratische Verantwortung. So ein Themenpark lässt sich wunderbar regieren: Hausrecht geht vor Grundrecht, der Zugang wird über Eintrittspreise oder mittelbar über hohe Getränkepreise wie im Café de Flore reguliert. Rein kommt nur, wer Geld hat.
Und das scheinen die Besucher zu goutieren. "Die Leute bevorzugen aseptisch saubere Versionen von Nachbarschaften vor realen Dingen", erklärt Hannigan. Insofern scheint sich Baudrillards Beobachtung zu bestätigen. Die Touristen geben sich lieber der Illusion hin, wie es einmal ausgesehen haben könnte, als den wahren Tatsachen ins Auge zu sehen. Vielleicht ist Paris längst kein realer Ort mehr, sondern ein riesiges Literaten- und Künstlercafé. Dem Existenzialisten Sartre hätten diese gekünstelten Orte und Objekte sicher nicht gefallen.