Zum Hauptinhalt springen

Doch kein edler Räuber

Von Christian Hütterer

Reflexionen

Der vor 200 Jahren hingerichtete Johann Georg Grasel wurde von der Nachwelt zu Unrecht zu einem Robin Hood des Waldviertels verklärt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am 31. Jänner 1818 versammelten sich tausende Wiener vor den Toren der Stadt, um einen jungen Mann zu sehen. Er war selbst erstaunt, so viele Neugierige anzuziehen. "Jessas, so vü Leit", soll er gesagt haben. Ein paar Minuten später war er tot. Bei dem Mann handelte es sich um den Räuber Johann Georg Grasel, der im Alter von 28 Jahren auf dem Glacis in der Nähe der heutigen Rossauer Kaserne hingerichtet wurde. Jahrelang hatte er im Waldviertel und im südlichen Mähren Angst und Schrecken verbreitet, nach seinem Tod wurde er zu einem edlen Dieb verklärt, der die Reichen bestahl, um den Armen zu helfen.

Vor zweihundert Jahren herrschte große Unsicherheit in weiten Teilen der österreichischen Monarchie. Die Napoleonischen Kriege und der Staatsbankrott des Jahres 1811 hatten dazu geführt, dass die Behörden die öffentliche Sicherheit nicht mehr garantieren konnten. Wurden Kriminelle erwischt, so sperrte man sie in Gemeindekotter, die aber nur schlecht gesichert waren und aus denen man leicht entkommen konnte.

Berüchtigte Banden

Dazu kam noch ein anderer Umstand, der das Leben von Übeltätern aller Art erleichterte: Zu jener Zeit war die Gerichtsbarkeit noch nicht vereinheitlicht, sondern zwischen den Grundherrschaften und dem Landesfürsten geteilt. Das daraus resultierende Gewirr von Behörden mit begrenztem Aktionsradius erleichterte das Leben von Kriminellen.

All dies führte dazu, dass sich in verschiedenen Teilen Österreichs Räuberbanden formierten, und manche von ihnen waren in einem weiten Umkreis berüchtigt. Simon Kramer, genannt Krapfenbacher-Simerl, der mit seinen Komplizen sein Unwesen in Kärnten trieb, gehörte dazu, ebenso die Bande der Stradafüssler oder Stradafiasla, die im Grenzgebiet zwischen der Steiermark, Niederösterreich und dem heutigen Burgenland die Bevölkerung terrorisierte.

In diese Zeit der Unsicherheit wurde am 4. April 1790 in Neu-Serowitz (heute Nové Syrovice) in der Nähe von Znaim der Familie Grasel ein Kind geboren, dem der Name Johann Georg gegeben wurde. Der Vater arbeitete als Abdecker und gehörte damit einer Berufsgruppe an, die keinen guten Ruf hatte. Seit dem Mittelalter galten die Abdecker - auch Schinder genannt - als unehrenhaft, obwohl sie eine wichtige Funktion erfüllten. Sie kümmerten sich nämlich um Verwertung von verendeten Tieren und leisteten damit einen Beitrag zur Verhinderung von Seuchen und Krankheiten.

Dennoch standen sie am Rand der Gesellschaft, was wiederum zur Folge hatte, dass Ehen meist nur innerhalb der Gruppe geschlossen wurden, und so stammte auch Grasels Mutter aus einer Abdeckerfamilie. Die Abdecker waren aber nicht nur in sozialer Hinsicht, sondern auch im örtlichen Sinn vom Rest der Bevölkerung getrennt. Sie lebten meist in sogenannten Wasenmeistereien, die abseits der Siedlungen lagen und deshalb ein ideales Versteck für Kriminelle waren.

Der kleine Johann Georg wuchs in schwierigen Verhältnissen auf. Die Mutter war bereits wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen, der Vater war Alkoholiker und Kleinkrimineller. Als der Bub zwei Jahre alt war, wurde sein Vater zu zehn Jahren Kerker verurteilt, die er auf dem berüchtigten Spielberg in Brünn absitzen musste. Die Mutter musste die Familie - der Bub hatte noch eine kleine Schwester bekommen - während dieser Zeit mit Betteln durchbringen.

Kriminelle Karriere

Johann Georg Grasel besuchte keine Schule und konnte zeit seines Lebens weder lesen noch schreiben. Im Alter von neun Jahren kam er zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt, es folgte eine Festnahme wegen kleiner Diebstähle und Herumtreiberei.

Als bald darauf sein Vater aus der Haft entlassen wurde, zog die Familie nach Ungarn. Der Versuch, dort eine neue Existenz aufzubauen, scheiterte aber und so kehrten sie nach zwei Jahren wieder in das Waldviertel zurück. Als der Vater neuerlich verhaftet wurde, drängte die Mutter den damals erst 16 Jahre alten Johann, bei einem Einbruch in Raabs mitzumachen. Er sollte Schmiere stehen, während ein anderer Mann in das Haus einstieg. So geschah es - und Johann wurde für seine Hilfe belohnt: aus der Beute bekam er zwei Bündel Bettwäsche.

Damit war der Grundstein für eine kriminelle Karriere gelegt. Nachdem Grasel senior wieder aus dem Gefängnis entlassen worden war, machten sich Vater und Sohn gemeinsam auf den Weg. Es folgte eine Reihe von Einbrüchen, und als Johann genug von seinem Vater gelernt hatte, brach er alleine zu seiner ersten Diebstour durch das Waldviertel auf. Unterschlupf fand er dabei meistens in Höhlen oder in Häusern anderer Abdecker.

Je länger Grasel sein Unwesen trieb, umso mehr fragwürdige Gestalten schlossen sich ihm an. In ihrer "Blütezeit" soll diese Bande mehrere Dutzend Personen umfasst haben, wobei die Zusammensetzung wechselte. Auf ihren Raubzügen machten Grasel und seine Komplizen das nördliche Niederösterreich und südliche Mähren unsicher. Meist überfielen sie abgelegene Bauernhöfe, die Bewohner wurden gefesselt und misshandelt, bis sie das Versteck ihrer Wertsachen preisgaben.

Trotzdem waren die Überfälle kaum ergiebig: Geld und Schmuck wurden nur selten erbeutet, oft mussten sich Grasel und seine Männer mit Lebensmitteln und Kleidung zufriedengeben. Erfolgreicher verliefen die Überfälle nur, wenn vergleichsweise reiche Personen ins Visier genommen wurden. Grasel überfiel etwa den Kaplan von Budkau (heute Budkov) und einen Arzt; in beiden Fällen konnte er Silbergegenstände, Uhren und Essbesteck erbeuten. Aber sogar wenn Grasel ein reiches Opfer erwischte, hatte er nicht immer viel davon. Bei einem Einbruch bei einem Tuchhändler erbeutete er zwar Stoffe im Wert von über 5000 Gulden, wurde aber beim Verkauf des Diebsguts selbst von einem Hehler betrogen.

Grasels Überfälle wurden im Lauf der Zeit immer brutaler: 1812 erstach er zwei Menschen. Im Jahr darauf wurde er zwar festgenommen und in ein Gefängnis nach Wien überstellt, konnte aber fliehen. Nachdem er im Jahr 1814 mehr Verbrechen als je zuvor begangen hatte, mussten die Behörden reagieren. Anstelle ihrer niederösterreichischen Kollegen übernahmen nun Wiener Behörden die Verfolgung. Bis zu 800 Soldaten wurden zur Fahndung aufgeboten, hatten aber keinen Erfolg. Einige seiner Komplizen und Hehler wurden verhaftet, Grasel selbst konnte immer wieder entkommen. Es wurde aber immer schwieriger, Unterschlupf zu finden.

"Amtsblatt"-Belohnung

Der Druck auf ihn stieg weiter, denn im November 1815 wurde im Amtsblatt der "Wiener Zeitung" eine Belohnung von 4000 Gulden für den ausgelobt, der den "Raubmörder Johann Georg Grasel" lebend in ein Gericht bringt. Die Belohnung war ein kleines Vermögen, denn zu jener Zeit konnte man im Waldviertel für etwa 800 Gulden ein Haus kaufen.

Zugleich wurde eine Beschreibung des Gesuchten veröffentlicht: "Johann Georg Grasel, 22 Jahre alt, große, schlanke Statur, hat ein längliches mehr mageres als fettes Gesicht von gesunder Farbe mit wenigen Blatternarben und Sommersprossen." Die Behörden warnten zwar vor Grasel: "Er trägt gewöhnlich Pistolen, Terzerole, Messer und ein Stilett bei sich", der Steckbrief enthielt aber auch beinahe bewundernde Worte. Grasel "spricht geschwind deutsch, auch böhmisch, und ist sehr kühn, unternehmend, stark und gewandt . . ., unter seinen Raubgenossen ist er äußerst streng, und bei Einbrüchen durch Mauern, Türen, Schlösser aller Art sehr geschickt; er hat sehr viel Mut und obschon er weder lesen noch schreiben kann, so hat er doch einen sehr guten Kopf und vergisst nicht leicht etwas."

Die Festnahme des Räubers gelang schließlich durch eine List: Grasel wollte nach Schlesien flüchten, stand allerdings vor dem Pro-blem, dass seine Freundin Resi Hamberger, die er auf seine Flucht mitnehmen wollte, in Drosendorf im Gefängnis saß. Die Justizbehörden brachten über einen Spitzel das Gerücht in Umlauf, dass Hamberger freigelassen werden sollte.

Als Grasel seine Freundin in einem Gasthaus in Mörtersdorf treffen wollte, wurde er dort verhaftet. Grasel selbst gab später zu Protokoll: "Gleich beim Eintritt merkte ich, dass ich verraten sei (. . .) als ich bey der Thüre hinausgehen wollte, wurde ich plötzlich rückwerts ergriffen, auf den Kopf mit dem Gesicht zur Erde gestürtzt."

205 Straftaten

Nach seiner Verhaftung wurde Grasel nach Wien überstellt und gestand in einer langen Reihe von Verhören insgesamt 205 Straftaten. Auf die umfangreichen und zwei Jahre dauernden Ermittlungen folgte der Prozess, der im Jänner 1818 zu Ende ging. In seinem abschließenden Plädoyer verwies Grasel auf die Umstände, in denen er aufgewachsen war, und auf seinen Vater, "welcher nicht nur keine gute Erziehung gab, sondern ihn von Kindheit an zum Stehlen und Rauben angeeifert."

Seine Worte stießen auf wenig Verständnis, denn das am 28. Jänner 1818 verkündete Urteil lautete auf Tod durch Erhängen und wurde drei Tage später exekutiert.

Bald nach seiner Hinrichtung änderte sich das Bild von Grasel. Bücher, Theaterstücke und Gedichte wurden über ihn geschrieben, er wurde Protagonist mehrerer Sagen und alle hatten eines gemeinsam: In ihnen wurde aus dem erbarmungslosen Räuber eine Art Robin Hood des Waldviertels, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben. Aus historischer Sicht ist diese nachträgliche Verherrlichung nicht gerechtfertigt: Grasel und seine Kumpane waren einfach Verbrecher, die für Angst und Schrecken sorgten und ihre Opfer ohne Rücksicht beraubten - egal, ob sie arm oder reich waren.

Heute ist Grasel in der Region, in der er vor über zweihundert Jahren sein Unwesen trieb, zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. In Mörtersdorf ist ein Wirtshaus nach ihm benannt, durch das Waldviertel und Südmähren führen Wanderwege auf Grasels Spuren und in mehreren "Graselhöhlen" soll sich der Räuber vor seinen Verfolgern versteckt haben. Er hat aber auch sprachliche Spuren hinterlassen. Wenn man im Tschechischen von einem Lumpen oder Gauner spricht, so nennt man ihn heute noch einen "grázl".