Das Dorf im Burgund gilt als repräsentativ für die ganze Nation. Was sagen seine Bewohner?
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Donzy. Als Jacques Bouet zu seinem Arbeitswerkzeug greift, kann er sich die Provokation in Richtung seines Chefs nicht verkneifen. "Ich nehme das marineblaue Messer", sagt er mit spitzbübischem Grinsen, als er sich ein Messer mit blauem Griff schnappt und anfängt, die Gänseleber auf der Arbeitsfläche zu zerteilen. Bouet weiß, dass er seinen Boss mit der Anspielung auf den Namen der rechtspopulistischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ärgert. Der schießt prompt zurück. "Überleg es dir gut, bevor du Le Pen wählst", warnt Frédéric Coudray. "Wenn die gewinnt, mache ich den Laden dicht und gehe nach Belgien."
Coudray wird bei den Wahlen am 23. April und 7. Mai für den unabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron stimmen. "Die Rechten behaupten, Macron sei links - die Linken meinen, er sei rechts. Das heißt: Er steht in der Mitte, macht Kompromisse. Außerdem ist Macron der einzige Kandidat, der Europa voranbringen will."
Der Gänsezüchter debattiert gerne über Politik - nicht nur in seiner Fabrik, wo er die Spezialität Gänseleber herstellt. Medien aus aller Welt dient Coudray regelmäßig als Interviewpartner. Denn er lebt in Donzy, wo viele den Schlüssel für den Ausgang des Votums wittern. Seit Jahrzehnten kommt keine Gemeinde bei Präsidentschaftswahlen dem nationalen Ergebnis näher als dieses beschauliche 1600-Seelen-Dorf im Burgund, in dem am Nachmittag alle Geschäfte schließen.
Hier lebt der Unternehmer Coudray, der sich eine pragmatische Politik wünscht, am ewigen Jammern vieler Franzosen über die Politiker verzweifelt und die positive Zukunftsvision des jungen Sozialliberalen Macron vorzieht. Und es gibt seinen Angestellten Jacques Bouet, der noch nie wählen war, aber nun "die Nase voll hat" und aus Protest für den Front National stimmen will: Die Kaufkraft sei zu gering, die Kriminalität steige an, die Politiker seien korrupt, zählt der 43-Jährige auf. "Ich weiß nicht, ob es mit Le Pen besser würde, aber schlechter geht kaum."
Angst vor "Islamisierung"
Auf einer Caféterrasse in der Sonne sitzen Tiphaine Coiffard und Victor Zylberberg, beide 29 Jahre alt und Anhänger des Linkspolitikers Jean-Luc Mélenchon, der in Umfragen bei 15 Prozent liegt. "Er macht als einziger aus der Ökologie ein wichtiges Thema, er will die Institutionen reformieren."
In Donzy hört man viele Meinungen - ist das Dorf ein Abbild Frankreichs? "Wir sind zwar typisch für das ländliche Frankreich, seine Traditionen", sagt der konservative Bürgermeister Jean-Paul Jacob. "Es gibt wie im übrigen Land kaum mehr Industrie. Weil wir ein großes Altersheim haben, leben hier überdurchschnittlich viele Senioren, die sich traditionell stark an Wahlen beteiligen. Aber untypisch ist, dass hier kein einziger Einwanderer wohnt." Die Angst vor einer "Migrationswelle" und einer "Islamisierung" der Gesellschaft, vor der Le Pen so eindringlich warnt, sei trotzdem da, ebenso wie die Furcht vor sozialem Abstieg. Viele seien EU-kritisch eingestellt, weil sie glauben, dass Brüssel allen nur bürokratische Vorschriften auferlege: "Die Vorteile der EU werden übersehen."
Immer mehr Menschen geben zu, dass sie Front National wählen, sagt Jacob. "Ich glaube aber nicht, dass Le Pen siegen kann." Seine Prognose? "Emmanuel Macron und François Fillon haben Chancen." Doch dem Republikaner Fillon haben die Vorwürfe schwer geschadet, er habe seine Frau und seine Kinder als parlamentarische Assistenten üppig bezahlen lassen, ohne dass diese wirklich arbeiteten. In Umfragen liegt er mit knapp 18 Prozent deutlich hinter Macron und Le Pen, denen jeweils 25 Prozent vorausgesagt werden. "Man redet zu viel über Fillons Affären, aber sie zeigen eben auch, wie abgehoben die Politiker in Paris von der Realität sind", bedauert Jacob.
Sie fühle sich von keinem Kandidaten vertreten, sagt die 75-jährige Cécile Kreweras, die ihren Lebensabend in Donzy verbringt. "Versprechen werden ohnehin nicht gehalten. Diese Wahl ist paradox: Sie mobilisiert, weil große Unsicherheit herrscht. Zugleich werden sich viele erst entscheiden, wenn sie vor der Urne stehen." Das gilt für Kreweras - und für ein Drittel der Franzosen.