Experten: Kabul hat keine Macht. | Hauptstadt vor dem Fall? | Wien. "Die Afghanistan-Konferenz bringt nichts", ist Amanullah Jawad überzeugt. "Kommt zu uns nach Afghanistan, statt nach London zu gehen. Fragt uns, was geschehen soll." Der Vizedirektor des landwirtschaftlichen Aufbauprogramms für Afghanistan (RRAA) erntet zustimmende Blicke von seinen Kollegen bei dem Pressegespräch im Wiener Radisson-Hotel. Was man aus dem Mund der vier am Aufbau ihres Landes beteiligten Afghanen hört, steht im krassen Gegensatz zu dem, was man gleichzeitig auf der Konferenz in London zu hören bekommt. Militär sei nicht wichtig, Geld sei nicht wichtig, heißt es.
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Viel wichtiger als finanzielle Hilfe sei es, die Bevölkerung in den Aufbau ihres Landes einzubeziehen. "Die Menschen sollen sich selbst um ihr Aufbau-Projekt kümmern, das Gefühl haben, dass es ihr eigenes ist", erklärt Abaceen Nasimi vom Institut für Kriegs- und Friedensberichterstattung in Kabul. Hochtrabende strategische Planung, aufgesetzte Hilfsprojekte, damit kann der Westen in Afghanistan offenbar nicht punkten. Längst schon ist das, was man hierzulande als afghanische Regierung kennt - das, wohin die internationale Hilfe fließt - nur mehr eine Scheinwelt.
Was tatsächlich geschieht, wird auf Dorf- und Provinzebene entschieden, sind sich die Experten einig. Dort, wo Ex-Kommunisten, Mujahedin und Taliban gemeinsam beraten. Diese Ebene müsse gefördert und mit finanzieller Hilfe bedacht werden und nicht Regierung und Parlament in Kabul. "Das besteht zu 60 bis 70 Prozent aus Kriminellen", erregt sich Esmatullah Haidary von der Afghanischen Entwicklungsgesellschaft (ADA).
Egal, ob Impfaktion, Schul- oder Straßenbau, der Schlüssel zum Aufbau liege bei der Shura eines jeden betroffenen Dorfes - einer Art Ältestenrat. Diese müsse als Erstes einem Projekt zustimmen, dann die Regierung grünes Licht geben und erst dann kommt es zu den entscheidenden Verhandlung zwischen Shura und - den Taliban. Deren Zustimmung ist oft der kostspieligste Teil eines Projekts, doch ohne sie gibt es keine Sicherheitsgarantie. Je instabiler das Gebiet, umso mehr internationales Geld fließt an die radikalen Islamisten als Schutzgeld.
Schnell erhält man den Eindruck, dass Präsident Hamid Karzai auf verlorenem Posten steht. Nicht einmal die Hauptstadt ist unter Kontrolle, davon zeugen die Anschläge der letzten Monate. "Wir stehen unmittelbar vor einem Aufstand vor den Toren Kabuls", sagt Nasimi. "Uns läuft die Zeit davon." Zu schnell greife der Widerstand unter der Bevölkerung um sich. Dafür sorgen die unbeliebte Regierung ebenso wie die zivilen Opfer bei den zunehmenden Militär-Einsätzen.
Nur auf die Taliban zu achten sei dabei falsch. "Ich würde nicht von einem Taliban-Aufstand sprechen", sagt Nasimi. Es gebe eine Menge Gruppierungen, die Front gegen die Regierung machten. Das sei ein breites Spektrum von Kriegsherren über die Partei Hezb-e Eslami bis hin zu gewöhnlichen Dieben. Was sich da tun lässt? Keine Ratschläge von außen, sagt Esmatullah. "Wir wollen auf unseren eigenen Füßen stehen."