Die Nobelpreisträgerin Doris Lessing spricht über den Unterschied zwischen Männern und Frauen, über den Wandel der Werte, über das Altern, über Schatten und Träume.
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Wiener Zeitung:Sie haben die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts so intensiv erlebt wie nur wenige: in Persien geboren, in der rassistischen Welt der englischen Kolonie Südrhodesien aufgewachsen, als junge Frau für den Kommunismus entflammt, haben Sie sich 1949 im Nachkriegseuropa niedergelassen, wo Sie zur glühenden Anti-Ideologin wurden, sind lebenslang dem Schreiben, Reisen, der Liebe zur ersten Heimat Afrika treu geblieben, und immer mit Zukunftsvisionen beschäftigt. Doch ist dieses 20. Jahrhundert, auf das Ihr Werk eine so leidenschaftliche Antwort gibt, bereits vergangen. Haben wir Menschen irgendetwas dazugelernt? Doris Lessing: Ich glaube, ja. Wir sind uns der drohenden Gefahren sehr bewusst, aber wir wissen nicht, wie damit umzugehen ist. In Fragen wie dem Klima scheint es ja langsam klar zu werden, dass wir weltweit zusammenstehen müssen.
Sie sind heute positiver eingestellt als Sie es früher waren...
Das hängt wohl immer stark mit dem zusammen, was ich gerade schreibe (lacht) . Auch zu meinem letzten Buch, "Die Kluft", sagen mir die Leute, sie fänden es ziemlich witzig, und das stimmt auch.
Die ganz großen Distanzen haben Sie immer fasziniert, nicht wahr? Ihre Geschichten sind oft entweder weit in die Zukunft projiziert oder, wie jetzt, weit zurück in der Geschichte.
Ja, wir Menschen haben eine lange Geschichte. Wir leben in den Ruinen alter Zivilisationen. Wir nehmen das als etwas Selbstverständliches hin, aber das ist es nicht.
Vor allem nach Ihrem "Goldenen Notizbuch" warb die Frauenbewegung um Sie. Bestand der Konflikt zwischen Ihnen und dem "womens´ movement" darin, dass Sie die Unterschiede zwischen Mann und Frau eher für naturgegeben halten und nicht so sehr für gesellschaftlich gemacht?
Schwer zu sagen, ich war nie Teil der Bewegung. Ich habe einfach immer auf diesem grundlegenden Unterschied bestanden: Frauen gebären, alles Leben stammt aus ihnen. Männer können das nicht. Das habe nicht ich oder die Gesellschaft erfunden, das ist naturgegeben.
Gut, aber was heißt das? In Ihrem Buch "Der Sommer vor der Dunkelheit" haben Sie den inneren Kampf einer Frau in ihren 40ern um einen eigenen Lebenssinn, unabhängig von Mann und Familie, beschrieben. Auch in anderen Büchern erzählen Sie davon, wie Frauen in der Gefahr schweben, ihre seelische und geistige Unabhängigkeit einem Mann, einer Familie zu opfern. Den Konflikt zwischen der "naturgegebenen Rolle" und den Folgen daraus haben Sie also häufig thematisiert.
Natürlich, ich stamme ja aus der Zeit vor der Pille. Frauen in meinem Alter erscheint es erstaunlich, dass für jüngere Frauen Geburtenkontrolle etwas Selbstverständliches ist. Es ist die Revolution unserer Zeit. Alle anderen Revolutionen sind nichts dagegen. Umso erstaunter bin ich natürlich darüber, dass Frauen nach all diesen historischen Veränderungen nicht nach mehr suchen, nach anderen Arbeitsformen. Mir scheint, dass Frauen zu viel mehr in der Lage wären, als womit sie sich zufrieden geben. Den meisten liegt wohl gar nicht so viel daran, sich zur Höhe ihrer eigenen Möglichkeiten aufzuschwingen.
Der Umstand, dass Frauen Kinder gebären und aufziehen, ist für mich so grundlegend, dass es sich gar nicht lohnt, darüber zu diskutieren. Historisch relativ neu ist aber, dass Frauen in diesem Punkt Wahlfreiheit haben: seit ungefähr zwei Generationen, seit der Pille, genaugenommen. Wir sehen ja, was sie wählen. Es ist platt, das zu sagen, aber oft ist es einfach so: Junge Frauen suchen einen Ehemann, mehr als alles andere.
Hat die Frauenbewegung also nichts verändert - oder jedenfalls viel zu wenig?
Nun ja, die Gleichbezahlung haben wir in Großbritannien zum Beispiel immer noch nicht. Frauen machen die gleiche Arbeit wie Männer und werden dafür schlechter bezahlt. Der einzige wirklich grundlegende Fortschritt, der sich in meiner Lebenszeit ereignet hat, ist die Erfindung der Pille. Dabei rede ich natürlich nur von der westlichen Welt.
Aber geht es nicht um zweierlei? Das eine ist, sich für oder gegen Kinder zu entscheiden. Das andere wäre, für oder gegen die eigene Emanzipation zu arbeiten - sind die Frauen zu schnell bereit, sich den Männern zu unterwerfen, sich ihnen anzupassen, oder nicht?
Alles läuft auf die eine Frage hinaus: Verdient man sein eigenes Geld? Solange du kein eigenes Geld hast, bist du nicht frei.
Diese Freiheit scheint dann oft mit Alleinsein verbunden - etwas, das ja nicht negativ sein muss. Sie haben einmal Einsamkeit als einen großen Luxus beschrieben...
Oh ja, Einsamkeit ist ein Luxus, man muss dafür kämpfen. In meinen Augen ist Einsamkeit etwas schwer zu Erwerbendes, schwer zu Erhaltendes.
Was genau meinen Sie mit dieser Einsamkeit?
Die Freiheit, für niemand anderen sorgen zu müssen. So werden Frauen ja oft gesehen - sie müssen den Betrieb am Laufen halten. Es als Frau zu erreichen, dass man diese Rolle nicht einnehmen muss, und vielleicht auch gar nicht einnehmen will, scheint mir harte Arbeit zu sein. Mit dieser Einsamkeit meine ich ja nicht ein trauriges, unfreiwilliges Alleinsein, sondern ganz im Gegenteil etwas Segensreiches, das man ganz für sich allein hat. Ich habe das nie in meinem Leben hingekriegt, man stelle sich das vor: die vollkommene Freiheit der Selbstbestimmung, du liebe Güte... (lacht) ... nie ...
Wäre das Leben denn einfacher und weniger schmerzhaft, wenn die Geschlechter unter sich blieben? So, wie Sie das am Anfang von "Die Kluft" ausmalen: Frauen unter sich, und zunächst auch die Männer unter sich; und die Kinder werden gemeinschaftlich erzogen.
Das funktioniert auch nicht. Man hat es ja in Israel gesehen, in den Kibbutzim, dass es nicht gelingt. Die Eltern halten sich nicht an diese Regeln, sie schaffen es einfach nicht.
Gibt es also wirklich keine Alternative zum tradierten Kleinfamilienpaket?
Ich denke, Männer gehen ganz gern ihre eigenen Wege, was auch immer das bedeutet; ihren Sport, ihre Clubs... Es gibt viele Motive für Männer, allein unterwegs zu sein, und für Frauen genauso. Wenn man sich auf einer Party umschaut, merkt man: hier stehen die Frauen zusammen, dort die Männer. Es gibt einen starken Zug zum eigenen Geschlecht bei Männern genau wie bei Frauen, denke ich.
Was Männer und Frauen verbindet, lässt sich also auf Sex reduzieren? Auf das Spiel der gegenseitigen Anziehung?
Sich miteinander vergnügen. Natürlich!
Zurück zum Schreiben. Einmal mehr haben Sie sich in "Die Kluft" einer Phantasie hingegeben, wie Geschichte anders hätte verlaufen können.
Es fasziniert mich, in Gedanken in jene Zeit zurückgehen, als die Welt wirklich noch ein riesiger Raum war, wo verschiedene evolutionäre Schritte an verschiedenen Plätzen stattgefunden haben. Haben Sie die Berichte gelesen über diese Insel im Pazifik, wo man kleinwüchsige Menschen entdeckt hat? Ein Volk kleiner Menschen, das kommt sonst nur in Märchen vor. Es kann gut sein, dass es noch mehr solcher Völker gegeben hat, und irgendwo anders eine Gesellschaft, die nur aus Frauen bestand. Es ist so langweilig, in einer Welt zu leben, die völlig überschaubar geworden ist!
Und noch dazu ziemlich zerstörerisch, was die Vielfalt ihrer Kulturen angeht.
Ja, unsere Spezies scheint keinen ausgeprägten Sinn für Selbsterhaltung zu haben. Was sich tatsächlich durch die Zeiten nicht verändert, ist die Sucht großer Staaten, zu dominieren und andere zu malträtieren. Als ich ein noch ein Mädchen war, stellten die USA noch keine Bedrohung der Welt dar, wie jetzt. In meinem langen Leben sah ich Imperien aufsteigen und wieder fallen. Nicht dass mir das gefiele - aber so scheint die Geschichte eben zu laufen.
Durch Ihre Bücher zieht sich als die vielleicht größte Angst die Sorge um das ökologische Überleben der Erde. Ihr Buch "Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund" beschreibt einen Albtraum. Die Welt ist klimatisch zerstört, die Menschen allesamt Flüchtlinge. Kultur ist eigentlich kein Thema mehr, weil das unmittelbare Überleben alle Energien und Gefühle frisst.
Ja, die Figuren dieses Romans blicken auf die Zivilisation zurück. Sie schauen auf uns, ihre Vergangenheit. Uns, die wir so unglaublich klug und fortschrittlich sind, und uns dabei selbst zerstört haben. Die Leute in dem Buch sind Flüchtlinge aus verschiedenen Motiven - Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnot, Dürre - jeder flieht vor irgendetwas. In diese Richtung läuft die Entwicklung ja gerade. Und die Klimaerwärmung beschleunigt all dies noch.
Wenn das so weiter geht, wird es mehr Flüchtlinge geben. Ich merke aber nicht, dass die Welt sich darauf einstellt, mit den Flüchtlingsströmen umzugehen.
Wie steht es um die Jugend, einem großen Thema Ihres Lebens? Die Jugend von heute hat weniger Ideologien - etwas, das Sie als Gegnerin jeder Ideologie doch freuen müsste. Ist sie also freier? Kompetenter?
Jetzt haben wir andere Bedrohungen: Religiöse Ideologien, Fanatiker. Trotzdem ist mein Eindruck, dass die Jungen weniger ideologisch und viel offener sind als die Alten, bei denen es eine gewaltige Fremdenfeindlichkeit gibt - und das in einem Land wie Großbritannien, wo wahrscheinlich jeder Einwohner in seiner DNA schwarzes oder indisches Blut hat.
Oft sind Visionäre tragische Figuren, sie tragen die Last eines Wissens auf ihren Schultern, das sie meist mit niemandem teilen können. Gilt das für Sie auch?
Ich nehme an, dass diese Begabung zu Vorgefühlen oder Vorahnungen aus meiner Jugend stammt - der fürchterliche Erste Weltkrieg war damals noch allgegenwärtig; jeder in meiner Umgebung war davon gezeichnet. Mein Vater war Kriegsinvalide, meine Mutter hatte Verletzte im Lazarett gepflegt. Im Zweiten Weltkrieg war ich dann von Flüchtlingen umgeben. Ich lernte, von diesen Schrecken nicht überrascht, sondern im Gegenteil immer auf sie gefasst zu sein.
Es ist ja kein Zufall, dass ich den zweiten Band meiner Autobiographie "Schritte im Schatten" genannt habe - diese Schatten sind mir vertrauter als alles andere. Aber das gilt ja nicht nur für mich. Millionen von Menschen sind unter solchen Umständen großgeworden, viele nicht mal bewusst. Und so trage ich diese beiden Kriege mein Leben lang mit mir herum, und sie werden im Laufe der Zeit schwerer statt leichter.
Sie waren immer eine Pionierin, die Zustände erfasst, zur Sprache bringt, lange bevor Sie im Mainstream ankommen. Das gilt auch für Ihr berühmtestes Buch, "Das Goldene Notizbuch", aus dem Jahr 1962. Hat man noch eine Verbindung zu einem Buch, das so lang her, so weit weg ist?
Es ist noch immer mein Buch, und doch weiß ich: Ich könnte es nicht mehr schreiben, jedenfalls nicht mehr so. Es wurde im Kalten Krieg geschrieben. Versucht man jungen Leuten heute zu erzählen, was das einmal bedeutet hat, lachen sie und können sich nichts mehr darunter vorstellen.
Gewinnt man mit dem Älterwerden Neues, und verliert Altes?
Man verliert alles! Meine Energie ist vollständig weg. Existiert nicht mehr. Ich habe früher einmal in einem Jahr und drei Monaten vier Bücher geschrieben. Unvorstellbar heute! (lacht).
Aber es erscheint ja immer noch Neues von Ihnen.
Okay, dann kommt Ihnen das vielleicht anders vor, aber lassen Sie es sich gesagt sein: die Wahrheit ist, dass ich es kaum noch schaffe, Energie zum Schreiben zusammenzukratzen. Ich glaube, jüngere Leute können es schwer ertragen, dass jemand so schwach werden kann und dann einfach sagt: so ist es. Es macht ihnen Angst.
Andererseits ist es auch sehr ermutigend, jemandem wie Ihnen zu begegnen.
Sie meinen, weil ich immer noch am Leben bin!? Ja, so ist das in England, ist man erst einmal älter als 75, dann bekommt man alle Orden, und wird ständig dafür gelobt, dass man noch am Leben ist.
Arbeiten Sie immer noch mit Ihren Träumen?
Oh ja, sehr. Wenn ich beim Schreiben irgendwo feststecke und nicht weiterkomme, kann es passieren, dass ich das meinem Schlaf sozusagen als Auftrag mitgebe, und am nächsten Morgen ist die Antwort da. Das ist eine Technik. Du denkst und denkst und denkst den Tag über etwas nach, und vor dem Schlafengehen legst du es im Unterbewussten ab. Dort arbeitet es dann weiter. Beim Schreiben der "Geschichte von General Dann" war ich einmal an einem solchen Punkt angelangt, eine unerwartete Figur tauchte auf, ich verlor den Plan und brauchte etwas, um wieder zu ihm zurückzufinden. Dann träumte ich von Schneehunden - und das waren genau die Figuren, die ich für die Geschichte brauchte.
Und wenn Sie sich wünschen dürften, dass ein Traum von Ihnen in Erfüllung ginge? Welcher wäre das?
Wir sollten endlich aufhören, diesen armen Planeten mit unserem Dreck zu beladen.
Zur Person
Doris Lessing wurde am 22. Oktober 1919 in Kermanschah, Persien, geboren, wo ihr Vater bei einer Bank beschäftigt war. Als Doris fünf Jahre alt ist, zieht die Familie nach Rhodesien, das heutige Zimbabwe. Auf der elterlichen Farm steht das Glück des Lebens im Busch den heftigen Zerwürfnissen zwischen Mutter und Tochter entgegen. Mit 13 verlässt Doris die Schule, mit Mitte 20 ihre beiden kleinen Kinder, und mit 29 schliesslich Afrika. Seit 1949 lebt Doris Lessing in London. 1950 erscheint ihr erster Roman, "Afrikanische Tragödie", in dem sie eine Mordgeschichte benutzt, um das Drama des Rassismus im südlichen Afrika zu thematisieren.
Doris Lessings Werk umfasst rund 60 Bücher: Romane, Erzählungen, Essays, Lebenserinnerungen, Reiseberichte, Opernlibretti. Sie erzählt oft von Frauen in Lebenskrisen, und wurde deshalb nach ihrem Welterfolg mit "The Golden Notebook" (1962, deutsch 1978) heftig von den Feministinnen umworben, was sie aber ebenso entschieden zurückwies wie sie sich Ende der 50er Jahre vom Kommunismus abgewandt hatte.
Am 11. Oktober 2007 wurde Doris Lessing der Nobelpreis für Literatur verliehen. Unvergesslich die spontane Szene auf den Stufen vor ihrem Haus, als sie so freundlich wie ironisch den drängelnden Journalisten erklärte: "Hätten Sie´s mir gestern gesagt, dann hätte ich mir ein paar Worte überlegen können... Natürlich freue ich mich, wie soll ich mich denn nicht freuen, aber über alle anderen Preise habe ich mich auch gefreut." Das zeigt eine erstaunliche Schriftstellerin, die alles anders macht als vermutet; auf einer Treppenstufe hockend, gibt sie eine ungestylte Erklärung ab, um danach alle weiteren Interviews und Statements zur Nobelpreisverleihung zu verweigern.
Literaturhinweis: Bernadette Conrad: Nomaden im Herzen. Literarische Reportagen, Libelle Verlag, Lengwil, 144 Seiten, 15,30 Euro (dieses Buch enthält auch ein Kapitel über Doris Lessing).