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Dort, wo die Hunde leben

Von WZ-Korrespondentin Liza Ulitzka

Politik

In einer Satellitenstadt westlich von Kairo kämpfen Syrer ums Überleben.


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Flüchtlingskinder in der Fard-Stiftung: Die Ausstattung ist dort weitaus besser als im Lager.
© L. Ulitzka

Kairo. Abu El Nur legt seine großen Hände fest um seinen Hals und drückt sie kurz zusammen. Das Leben in Kairo nimmt ihm die Luft zu atmen. "Ich weiß, ihr könnt nichts tun für mich. Aber ich musste das einfach einmal alles los werden", sagt der ehemalige Bodybuilder aus Syrien kurz, bevor er zu dieser Geste ansetzt. Seiner Statur sieht man noch Spuren der Kraft an, die die Folterer in einem syrischen Gefängnis vier Monate lang fast gänzlich aus ihm herausgeprügelt haben. Wegen seines malträtierten Rückens und der kaputten Arme kann er jetzt nicht einmal mehr eine Pfanne heben, um seinen gelernten Job als Koch auszuüben.

Aber selbst wenn er könnte, fände er keinen Job hier in Kairo, wohin er mit seiner Familie geflohen ist. Denn kein Ägypter hier in der Gegend stellt jetzt noch einen Syrer an. Auch keinen, der vorher in 5-Sterne-Hotels gekocht hat. Abu El Nur lebt seit acht Monaten mit Frau und zwei Kindern in Masaken Osman, einer Siedlung in Kairos südwestlich gelegener Satellitenstadt 6. Oktober City.

Laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR leben 32.666 Syrer hier, ein Großteil der in Kairo ansässigen syrischen Flüchtlinge. Rund 370 Familien leben in der Siedlung Masaken Osman. Es ist die billigste Gegend und das hat einen Grund: Masaken Osman steht komplett isoliert in der Wüste. Die Wohnungen wurden vor ungefähr drei Jahren aus dem Boden gestampft, um Menschen aus einem anderen Viertel in Kairo, das durch einen Felssturz zerstört wurde, hierher umzusiedeln.

Dieses Viertel war ein Ghetto, und die Bewohner waren hauptsächlich Drogendealer und Kriminelle. Ein Umfeld, mit dem die syrischen Flüchtlinge jetzt leben müssen. "Viele Kinder, die hier leben, haben begonnen, Drogen zu nehmen. Das sind junge Kinder, zehn, elf, zwölf Jahre alt, und weil sie arm sind, müssen sie dort leben; aber die meisten kommen gar nicht aus solchen sozialen Schichten", erzählt Rasha Maati. Sie ist die Mitbegründerin der Fard-Stiftung, einer Wohltätigkeitsorganisation, die als eine der letzten wenigen versucht, den syrischen Flüchtlingen zu helfen. Oft sind es Schlaftabletten, die die Kinder einnehmen. Maati meint, die Kinder bekämen die Drogen sehr billig und würden so wahrscheinlich versuchen zu vergessen, was sie in ihrem Heimatland Syrien durchleben mussten.

Kaum genug zu essen und vor allem keine Jobs

Mitten in der Wüste liegt das Flüchtlingsviertel Masaken Osman in einer Satellitenstadt westlich von Kairo.
© L. Ulitzka

Laut Schätzungen der ägyptischen Regierung leben rund 300.000 syrische Flüchtlinge in Ägypten. Die Wohnungen in Masaken Osman haben kein fließendes Wasser, und der Strom funktioniert nicht immer. Aber das Schlimmste ist, dass Abu El Nur nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll.

Jedes Mitglied einer syrischen Familie, die bei der UNHCR registriert ist, bekommt einen Essensgutschein im Wert von umgerechnet rund 21 Euro vom Welternährungsprogramm WFP der UNO - als einzige Flüchtlingsgruppe in Ägypten, wie Abraham Abatneh, Leiter des Ernährungsprogramms für syrische Flüchtlinge, betont. Als Vertragspartner konnte das WFP in Ägypten aber nur einen der teuren Supermärkte gewinnen.

Deshalb reicht das Geld oft hinten und vorne nicht für Abu El Nur: "Woher soll ich das Geld nehmen, soll ich es stehlen?" Seife und Handtücher für seine Kinder kann der 48-Jährige mit den Gutscheinen auch nicht kaufen, nur Nahrungsmittel. So sind die Regeln. Abatneh meint, so etwas sollten die Flüchtlinge von anderen Hilfsorganisationen bekommen. Aber viele haben ihre Arbeit eingestellt. Und etwas dazuzuverdienen ist seit zwei Monaten fast unmöglich. Zahlreichen Syrern, die in 6. Oktober City gearbeitet haben, wurde in den vergangenen beiden Monaten gekündigt. "Ich habe vor einem Monat vier Tage lang in einem ägyptischen Restaurant hier in der Gegend gearbeitet, dann wurde ich ohne Angabe von Gründen rausgeschmissen", erzählt der 23-jährige Bassem. Er ist der Sohn von Abu Kassem. Die neunköpfige Großfamilie kam nach und nach in Ägypten an und hat sich bisher sehr wohl gefühlt. Aber seit dem 30. Juni wollen alle nur noch weg, egal in welches Land.

Hilfe ist Mangelware oder wird sabotiert

Auch Rasha Maati hat Schwierigkeiten, den Syrern weiterhin zu helfen. Sie sucht händeringend nach Spendern, um den Betrieb ihrer Fard-Stiftung aufrecht erhalten zu können. Viele haben den Geldhahn zugedreht. "Wir haben zehn Nahrungsmittelfabriken hier in der 6. Oktober City um Essenspenden gebeten. Die Hälfte davon hat nein gesagt. Wir helfen keinen Syrern mehr, war ihre Antwort", beklagt Rasha Maati. Das Einzige, was Syrer noch bekämen, sei Nachtarbeit, meint Bassem. Aber diese Jobs wolle keiner machen. Die Löhne seien niedrig und es sei zu gefährlich, nachts in dieser Gegend unterwegs zu sein. Weil viele Syrer wie er keine Jobs haben, sind sie auf die Hilfe von Wohltätigkeitsorganisationen wie dem UNHCR angewiesen. Die unabhängigen Organisationen, die noch mit Syrern arbeiten, sind überlastet. Und das UNHCR hilft nur denen, die registriert sind. Das sind gerade einmal rund 111.000.

Unter Präsident Mohamed Mursi wurde jeder Syrer in einer Schule aufgenommen. Fast zwei Jahre lang ist Abu El Nurs 16-jähriger Sohn nicht mehr in die Schule gegangen. Erst wollten sie seinen Sohn ein Jahr zurückstufen. Das wollte er nicht akzeptieren. Später ging dann gar nichts mehr. "Ich bin in eine Schule gegangen, um meine Kinder für den Unterricht anzumelden. Aber dort wurde mir nur gesagt: ‚Ihr Syrer tötet uns. Wir können nichts für dich tun‘", berichtet der aufgebrachte Vater Abu El Nur. Die Diskriminierungen setzen sich auf der Straße fort.

"Fahr mich bitte nach Masaken Osman." "Dort, wo die Hunde leben?" Das war der kurze Dialog zwischen Abu El Nur und einem Tuk-Tuk Fahrer, als Abu El Nur einmal auf dem Weg nach Hause war. Rasha Maati erzählt von einer syrischen Familie, die ein gut gehendes Catering-Unternehmen in Alexandria hatte. Sie wollten nach Kairo expandieren, aber ihr Liefermotorrad wurde dort zerstört, sie wurden von Nachbarn beschimpft und ihre Tochter auf der Straße mit einem Stein angegriffen. Die Familie hat das Unternehmen geschlossen und ist zurück nach Syrien gegangen. Unter Beschuss zu sterben wäre besser als das Leben in Ägypten, meinten sie. "Sie behandeln uns wie Sklaven," schimpft der geschwächte Bodybuilder Abu El Nur, dessen Stimme aber immer noch stark genug ist, um seinem Ärger Luft zu machen.

"Die Medien schürten den Hass gegen die Syrer"

Syrer sind nicht mehr willkommen im Land am Nil, seit Ägyptens erster frei gewählter Präsident Mohamed Mursi am 3. Juli mit Hilfe des Militärs aus dem Amt getrieben wurde. Mit der Jagd auf die Islamisten begann auch die Jagd auf die Syrer.

Hilfe kommt allenfalls noch von den Mursi-Anhängern.
© reu

"Traditionellerweise haben Ägypten und Syrien enge Verbindungen gehabt. Sogar vor Mursis Amtszeit konnten Syrer ohne Visum nach Ägypten einreisen, und das Umfeld war freundlich zu ihnen. Viele Flüchtlinge kamen wegen der niedrigen Lebenserhaltungskosten und der guten Atmosphäre hierher. Die Mursi-Regierung bot ihnen freien Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Aber mit dem Regierungswechsel änderte sich das", berichtet Edward Leposky. Er ist Mitarbeiter des UNHCR in Kairo. Leposky sammelt und bereitet die Daten von syrischen Flüchtlingen in Ägypten auf.

Syrer seien verdächtigt worden, auf der Seite von Ex-Präsident Mursi zu stehen und Mitglieder in seiner Muslimbruderschaft zu sein, weil einige wenige an Demonstrationen teilgenommen hätten, schildert Leposky. Die privaten Medien, die vorwiegend Wirtschaftsmagnaten gehören, die immer noch enge Verbindungen mit dem alten Regime beziehungsweise zur Armee haben, griffen dasauf. "Die Medien haben ein großes Thema daraus gemacht. Sie haben im TV und in den Zeitungen den Hass gegen die Syrer geschürt. Die Menschen werden von den Medien beeinflusst, also haben die Organisationen, die mit Syrern gearbeitet haben damit aufgehört," berichtet Rasha Maati von ihren Beobachtungen.

Hassan Nafaa, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kairo, bestätigt das. Die Medien seien nicht objektiv. Er sieht das aber nicht als ernsthaftes Problem an. Viele Ägypter hätten enge Bindungen mit den Syrern, und nur ein paar Ignoranten würden das glauben, was die Medien sagen. Auch die Syrer in Masaken Osman selbst sind der Ansicht, dass es immer noch freundliche Ägypter gibt. Sogar der wütende Abu El Nur gibt zu, dass nicht alle Ägypter die Lügen im Fernsehen glauben.

Aber auch die Behörden haben begonnen, gegen die Flüchtlinge vorzugehen. Der Möbelhändler Osama Ismail aus Damaskus weiß ein Lied davon zu singen. Er kniet auf einer dünnen Matratze in der Wohnung der Großfamilie Kassem. Er ist ein ruhiger Mann und schaut meistens vor sich auf den Boden. Anders als der polternde Abu El Nur spricht er nüchtern, leise und in kurzen Sätzen: "Abends klopfte es an der Tür, und zehn Leute kamen in die Wohnung, durchsuchten sie und dann nahmen sie mich und knapp zwei Dutzend andere mit auf die Polizeiwache. Neun Stunden lang wurde ich festgehalten. Da unsere Visa aber in Ordnung waren, durften wir dann wieder gehen."

Osama Ismail und der Familienvater Abu Kassem wurden im Juli Opfer einer Verhaftungswelle von syrischen Flüchtlingen in Kairo. Sie hatten beide furchtbare Angst, nach Syrien zurückgeschickt zu werden, denn dies hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Hunderte andere Syrer ereilte dieses Schicksal - gerade als sie aufatmen konnten, weil sie auf dem internationalen Flughafen in Kairo gelandet waren.

Viele Syrer werden zurückgeschickt

Am 8. Juli wurde innerhalb eines einzigen Tages eine Visa-Pflicht für Syrer eingeführt, berichtet Edward Leposky. Den Fluglinien blieb nichts anderes übrig, als die verängstigte Fracht mit mehreren Flugzeugen wieder zurück nach Syrien zu bringen. Im Juli und August vermerkte das UNHCR 146 Verhaftungen wegen Visa-Verfehlungen, des Nicht-Einhaltens der Ausgangssperre oder des Verdachts der Gewaltanwendung. Damit sie aus der Haft entlassen werden, müssen ihre Familien ein Flugticket für sie kaufen, mit dem sie das Land verlassen. Die meisten Syrer in Ägypten haben inzwischen Angst davor, deportiert zu werden.

Laut Leposky kommen inzwischen keine Syrer mehr nach Ägypten. Die Zahl derer, die ihre Akte beim UNHCR schließen lassen, um ausreisen zu können, ist hingegen sprunghaft angestiegen - von mehr als 300 im Juli auf 823 im August. Nicht mitgezählt sind dabei jene Flüchtlinge, die versuchen illegal auszuwandern, was sehr gefährlich ist. Vorige Woche wurde ein Boot mit 100 Flüchtlingen, 50 davon Syrer, von der Küstenwache in Alexandria mit Schüssen gestoppt. Drei Menschen starben dabei. 289 Syrer wurden laut UNHCR wegen versuchter illegaler Auswanderung verhaftet, 24 davon Kinder. Die Flüchtlinge gaben an, dass es immer schwieriger wird, in Ägypten zu überleben.

Abu El Nur hat kein Visum für Ägypten, "und ich will auch keines!", schmettert er in den Raum. Er hat ein Visum für Frankreich beantragt. Seine letzte Hoffnung ruht auf Europa. Von den Muslimen und den arabischen Ländern fühlt er sich im Stich gelassen.