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"Dos", "Don’ts" und zwei für einen Tango

Von Siobhán Geets

Politik

Mediendebatte über Junckers Aussage, Großbritannien brauche die EU (nicht). Reisefreiheit für Merkel bei EU-Reform nicht verhandelbar.


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Brüssel/London. Was hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch vor dem Europäischen Parlament tatsächlich gesagt? Bei einer Debatte vor seinem Treffen mit Großbritanniens Premier David Cameron hörte sich das folgendermaßen an: "Ich bin zu 150 Prozent dafür, Großbritannien als konstruktiven Mitgliedstaat in der EU zu behalten. Wir brauchen Großbritannien." Soweit so klar. Doch das, was danach kam, beschäftigt seither britische Medien: "Ich persönlich glaube nicht, dass Großbritannien die EU braucht." ("I personally don’t think ...") Zwar ist Englisch nicht die Muttersprache des Kommissionspräsidenten, der außerdem zum Nuscheln neigt, und man kann durchaus darüber streiten, ob er nun "do" oder "don’t" gesagt hat. Die meisten hören jedoch ein "don’t" - und interpretieren das als Herunterspielen der Auswirkungen eines Brexit.

Spätestens 2017 will David Cameron seine Landsleute über einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU abstimmen lassen. Der konservative Regierungschef versucht nun, eine EU-Reform durchzusetzen, bei der London Kompetenzen aus Brüssel zurückerhält. Nur, wenn seine Wünsche erfüllt werden, so die Drohung des Premiers, werde er sich für einen Verbleib seines Landes in der EU einsetzen. Cameron scheint es vorrangig um freie Finanzwirtschaft und eine Begrenzung der Einwanderung zu gehen. Laut Diplomaten möchte er von der EU Zugeständnisse in vier Bereichen: Erstens soll die EU durch weniger Regulierungen wettbewerbsfähiger werden, zweitens darf die weitere Integration der Euro-Staaten nicht gegen britische Interessen verstoßen. Weiters soll das im EU-Vertrag verankerte Ziel einer "immer engeren Union" nicht mehr für Großbritannien gelten und viertens sollen "Sozialleistungs-" und "Wohlfahrtstourismus" vor allem von EU-Bürgern aus Osteuropa in Großbritannien eingedämmt werden.

Durch die Reformen hofft der Regierungschef, die EU-Kritiker auf der Insel zu beschwichtigen. Sie werden auch in den Reihen seiner eigenen Partei, den Tories, immer lauter. Gerade deshalb scheint es absurd, dass ausgerechnet Kommissionschef Juncker, der daran arbeitet, die Union zusammenzuhalten, gesagt haben soll, London brauche sie nicht.

EU-Gegner jubeln

Aus Junckers Kabinett hieß es natürlich, er habe ganz sicher "do" gesagt. Zu spät - schon kam der erste Applaus von EU-Skeptikern. "Ich mochte Jean-Claude Juncker schon immer", twitterte etwa Ukip-Chef Nigel Farage, "Er findet, Großbritannien brauche die EU nicht, und das finde ich auch!" Auch aus dem Büro der vor kurzem ins Leben gerufenen Pro-Brexit-Kampagne "Vote Leave" (Wählt den Ausstieg) schallte Jubel. Bei all dem Trubel gingen Junckers Anmerkungen zum Verhandlungsprozess mit den Briten gänzlich unter. Weder habe es in den vergangenen Wochen große Fortschritte gegeben, noch könne er Details nennen, so der Kommissionschef. "Wie manche hier wissen, bin ich kein famoser Tänzer, aber zumindest kenne ich die Regeln, die andere auch einhalten müssen. Es braucht zwei für einen Tango. Wir müssen tanzen und unsere britischen Freunde müssen tanzen."

Der Druck auf London wächst, endlich eine Liste mit konkreten Forderungen auf den Tisch zu legen. Beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel kündigte Cameron nun an, seine Pläne im November vorzulegen: "Das Tempo wird sich jetzt beschleunigen." Er sei zuversichtlich, "einen guten Deal für Großbritannien zu bekommen". Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte indes , dass gewisse Prinzipien nicht verhandelbar seien. Dazu gehörten die Reisefreiheit und der EU-Grundsatz des Diskriminierungsverbots.

Großbritannien profitiert schon jetzt von Ausnahmeregelungen und bekommt etwa Rabatte bei EU-Beitragszahlungen. Legt London nun seine neuen Forderungen vor, könnten sie bereits beim EU-Gipfel im Dezember diskutiert werden.

"Halten uns für verrückt"

Gestern, Donnerstag, ging es in Brüssel allerdings vorrangig um die Flüchtlingskrise und damit verbundene Verhandlungen mit der Türkei. Camerons Referendum über einen EU-Ausstieg sei "die Fliege in der Suppe" gewesen, kommentierte der britische "Telegraph". "Unsere europäischen Freunde halten uns für verrückt", wird ein britischer Minister zitiert. Werden Camerons Bedingungen erfüllt, könnten EU-kritische Parteien anderer Länder bald eigene Forderungen stellen, fürchten EU-Diplomaten.