Europa und die USA sind für die nächste Phase der Globalisierung schlecht gerüstet.
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Seit Ausbruch der Krise liefern die USA und Europa einander einen Wettkampf um die rote Laterne. Seit gut einem Jahr ist diese fest in den Händen der Europäer, die Vereinigten Staaten spüren einen zarten Aufwind. Sie mögen im Präsidenten-Wahljahr 2012 weiter von einer Budgetsanierung entfernt sein denn je, doch das spielt keine Rolle: Europa darf sich mit seiner Schuldenkrise der ungeteilten Aufmerksamkeit wütender Finanzmärkte sicher sein. Marode Banken, überschuldete Staatsfinanzen, Endzeitstimmung in der Währungsunion, all das ist Gift für die schwächelnde Konjunktur.
Es war klar, dass die flotte Erholung, die dem Absturz 2009 gefolgt ist, abflauen würde - die Konjunkturpakete hatten ein Ablaufdatum. Die Rakete ist aber überraschend früh verpufft. Die Zentralbanken sind mehr denn je im Krisenmodus, die Zinsen weiter (oder wieder) auf Rekordtief, die Geldspritzen noch üppiger - dennoch droht ein Jahr der Stagnation. Ein "Double Dip", ein Rückfall der Wirtschaftsentwicklung unter die Nulllinie, ist greifbarer denn je. Und hätte fatale Folgen: Bleibt das Wachstum aus, sinken die Steuereinnahmen und steigen (mit der Arbeitslosigkeit) die Staatsausgaben - eine Zwickmühle, in der Budgetsanierung und ein Abtragen der Schuldenquote praktisch unmöglich werden.
Keine rosigen Aussichten. Und dennoch: Ob die alten Wirtschaftsmächte ihren Wohlstand erhalten können, entscheidet sich nicht in diesem Jahr, sondern binnen der nächsten Generation. Das Großprojekt Schuldenabbau wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Wie gut oder schlecht sind Europa und die USA unter dieser Prämisse für den globalen Wettstreit gerüstet?
Ein Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte zeigt: Die saturierten Wirtschaftsblöcke hatten schon für die erste Globalisierungsphase keine Antworten parat. Die angelsächsischen Länder nahmen eine Deindustrialisierung in Kauf, große Produktionszweige wanderten in Billiglohnländer ab. In den USA übernahm der Konsum die Rolle des Konjunkturmotors - was die Haushalte in die Schuldenfalle führte und ungedeckte Schecks in Form von Hypothekenkrediten schreiben ließ. Großbritannien wollte die Industrie-Wertschöpfung mit einem aufgeblähten Finanzsektor kompensieren - und schafft es nun nicht mehr, diesen in seine Schranken zu verweisen.
Doch auch Kontinentaleuropa bekämpfte das Wegfallen zigtausender Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich letztlich mit steigenden Staatsquoten und Schuldenbergen. Zwar wurden Forschung, Innovation und Bildung als die richtigen Rezepte erkannt. Die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000, welche die EU binnen zehn Jahren zum dynamischsten innovationsbasierten Wirtschaftsraum machen sollte, landete jedoch einen kapitalen Bauchfleck: Statt aufzuholen, ist die Union zurückgefallen. Das Nachfolgeprojekt "Europa 2020" wurde schon nach wenigen Wochen ein Opfer des Spardiktats.
Ein fatales Signal, denn Globalisierung ist keine Einbahnstraße. In den nächsten Jahrzehnten bekommen es die saturierten Wirtschaftsmächte USA und Europa nicht mehr mit Billiglohnländern, sondern mit Konkurrenten auf Augenhöhe zu tun: Der Wachstumsstory asiatischer Giganten wie China, Indien oder Indonesien haben die westlichen Ökonomien wenig entgegenzusetzen. Diese extrem jungen und bevölkerungsreichen Gesellschaften haben enormen Aufholbedarf und sind die Absatzmärkte der Zukunft. Experten sind überzeugt, dass Chinas Wachstum schon in fünf oder zehn Jahren unabhängig von Exporten und somit vom Konsum der westlichen Welt sein kann.
Auch der so sorgsam gehütete Innovationsvorsprung droht verloren zu gehen. Während Nationen wie Südkorea oder Singapur nach vorne drängen, verliert sogar Europas Musterschüler an Boden: Deutschland hat seine Solarindustrie zu Tode subventioniert, ein Unternehmen nach dem anderen schlittert in die Pleite. China hingegen pusht, mit direkter staatlicher Intervention, seine Industrie zur Weltmarktführerschaft. Die Zeiten, als asiatische Industriespione mit Fotoapparaten belächelt wurden, sind vorbei - nicht nur, weil die Spionagemethoden einen technologischen Quantensprung gemacht haben: Asiens Autoindustrie überspringt gleich mehrere Stufen der Technologieentwicklung und greift nach der Führerschaft bei der Batterietechnik, die zentral für die E-Mobilität ist. Und oftmals sind es heute Firmen aus China, Indien oder dem arabischen Raum, die bei Übernahmen in Europa und den Vereinigten Staaten mitbieten (und angesichts der Schuldenkrise auch den Zuschlag erhalten).
Die Probleme der alten Mächte sitzen tief. Während die neuen Shooting Stars auf schier unerschöpfliche Personalressourcen im globalen Kampf um Talente zurückgreifen, verpasst die alte Welt den Anschluss. Europas Eliten im Speziellen scheinen von Wachstumsphobien gepeinigt: "Beyond GDP" sucht den Fortschritt fernab der Wirtschaftsleistung. Der "Better-Life-Index" der OECD soll individuelles Wohlergehen erfassen. Und Bhutan, eines der ärmsten Länder der Welt, gilt gar als Vorbild, weil es das "Bruttonationalglück" seiner Bevölkerung ermittelt. Was genau macht Wachstum neuerdings so verwerflich?
Viele Staaten Europas haben über Jahrzehnte bewundernswerte Netze zur sozialen Absicherung gespannt. Prämisse war dabei aber immer die Anstrengung des Einzelnen, den bestmöglichen Beitrag für die gesamte Gesellschaft zu leisten. Dieses individuelle Leistungsstreben wird zusehends diskreditiert - heute scheint das größte Glück ein Einkommen ohne Anstrengung zu sein. Am unteren Ende des sozialen Spektrums fallen Menschen aus dem Arbeitsprozess, verlassen sich auf ein bedingungsloses Grundeinkommen. Am anderen Ende lässt, wer es sich leisten kann, Geld für sich arbeiten. Oder kann sich gar der Zufälle und Zuflüsse aus nicht nachvollziehbaren Quellen nicht erwehren (legendär mittlerweile die Frage Walter Meischbergers nach "Wo woa mei Leistung?"). Wer in so einer Gesellschaft in die Hände spuckt, macht sich verdächtig. Er wird von der Steuer geschröpft (die oben und unten zahlen ja meist keine) oder landet geradewegs im Burn-out der Selbstausbeutung. Wo den Armen gegeben, den Reichen aber nichts genommen werden soll, bleibt nur Schuldenmachen als Alternative: die Umverteilung von wehrlosen künftigen Generationen zugunsten des heutigen Wahlvolkes.
Obendrein betreiben die alten Mächte kostspielige Pyramidenspiele, die ihnen eines Tages über den Kopf wachsen werden. In den USA frisst ein miserables Gesundheitssystem einen von fünf Dollars. In Europa sind es die Pensionen, welche die Finanzen endgültig kippen werden. Trauriger Spitzenreiter ist hier einmal mehr Griechenland, wo die Pensionsausgaben binnen einer Generation von 11 auf 22 Prozent der Wirtschaftsleistung explodieren werden (Österreichs Werte von 12,7 Prozent auf 14 Prozent sind besser, aber ebenfalls weit über EU-Durchschnitt).
Hinzu kommt, dass Demokratien keine besonders gute Bilanz aufweisen, was den Abbau von Schulden ohne Inflation und Staatspleite betrifft - ein Problem der politischen Fristentransformation: Jahrzehntelange Sparprogramme vertragen sich schlecht mit der Kurzatmigkeit von Legislaturperioden, die zusehends zwischen Wahlkämpfen verschwinden. Eine Krise der westlichen Demokratie? Nein, es ist dies vor allem eine Krise des Politpersonals.
Staaten, die sich über alle Maßen verschulden, handeln wie Spekulanten, die mit fremdem Geld üppige Gewinne erhoffen. Diese Wette geht nun nicht mehr auf. Die Finanzmärkte erzwingen eine Kurskorrektur, zu der die Politik nicht imstande war. Ob Griechenland oder Italien, ob die USA oder Österreich: Überall scheitern die Volksvertreter daran, einen parteienübergreifenden Konsens für faire Sparkonzepte zu finden. Die Parteien haben Routine in Verteilungskämpfen (Wie erreichen staatliche Segnungen passgenau die eigene Zielgruppe?), aber wenig Kompetenz, wenn es darum geht, Opfer zu verlangen. Deshalb schlägt nun die Stunde parteiferner Technokraten wie Mario Monti (Italien) und Lucas Papademos (Griechenland): Sie verfolgen keine Karrierepläne und müssen keine Klientel bedienen. Ein erster, aber umso wichtigerer Schritt zu soliden Staatsfinanzen.
Nur wenn die alten Wirtschaftsmächte sich ernsthaft dem globalen Wettbewerb stellen, werden sie Wachstum generieren, die Schuldenkrise überwinden und ihren Wohlstand bewahren. Dafür ist aber eine Erneuerung nötig - politisch, moralisch, individuell. Die Krise ist bei all diesen Herausforderungen eine große Bürde - und noch größere Chance: Zumindest, wenn der Weckruf verstanden wird. Da hat Europa den USA etwas voraus: Die Eurokrise ist nämlich nicht zu übersehen.