Die Euphorie über den EU-Austritt ist verflogen.
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Dover. Kilometerlange Autokolonnen, blockierte Straßen, faulende Nahrungsmittel im Hafen, Zäune, Flüchtlingslager, Hunde-Patrouillen, Flutlicht überall: Der englischen Hafenstadt Dover, dem alten Tor zu Großbritannien, wird Angst und Bange beim Gedanken daran, was in den nächsten Jahren auf die Gemeinde zukommen könnte. Das Triumphgefühl nach dem Brexit-Votum vom vorigen Sommer wandelt sich in zunehmende Unruhe, in wachsende Nervosität.
Eine gewisse Ironie ist der Situation nicht abzusprechen. Nicht nur waren Dovers Kreidefelsen während der Referendums-Kampagne der Inbegriff nationaler Wehrhaftigkeit gegenüber der Europäischen Union. In der Stadt selbst stimmte auch eine starke Mehrheit für Brexit, schon um die Ankunft weiterer unerwünschter Migranten zu stoppen. Nun aber fragt man sich in Dover, was der Stadt im Falle eines harten Brexit wohl blüht.
Denn Premierministerin Theresa May hat deutlich gemacht, dass Großbritannien unter ihrer Führung nicht nur aus dem EU-Binnenmarkt austreten würde, sondern auch seine reguläre Mitgliedschaft in der Zollunion kündigen müsste - schon um neue Handelspartner zu finden in aller Welt. Was das bedeutet, dämmert den Menschen in Dover aber so richtig erst jetzt. Der freie Warenfluss, die minimalen Grenzkontrollen kämen zu einem Ende. Enorme Mengen an Waren, die ununterbrochen durch den Hafen von Dover transportiert werden, müssten inspiziert werden, nach der Ankunft aus Calais.
Ein Stück weiter droben, in Folkestone, am englischen Ausgang des Eurotunnels, wäre die Lage nicht besser. 12.000 Lastwagen rollen jeden Tag durch den Tunnel und via Fähren auf die Insel - also 4,4 Millionen im Jahr.
Während bisher aber nur ein Prozent dieser Fracht kontrolliert werden musste, könnte sich dieser Anteil nach dem EU-Austritt auf bis zu 100 Prozent steigern. Und über genug Anlagen und Grenzbeamte, um solche Kontrollen reibungslos zu bewältigen, verfügt das Vereinigte Königreich zur Zeit nicht.
Banger Blick nach Frankreich
Außerdem ist das neue Computersystem, das das ausgediente alte im Oktober ablösen sollte, noch nicht einsatzbereit. Stattdessen wird die "verbesserte" elektronische Grenzüberwachung frühestens Anfang 2019 genutzt werden können - also genau zu dem Zeitpunkt, an dem Großbritannien die EU verlassen soll.
Britische Spediteure raufen sich schon die Haare. "Das schlimmstmögliche Szenario ist, dass alles zum Stillstand kommt", warnt Duncan Buchanan vom Verband der Fuhrunternehmer. "Unsere Mitglieder machen sich riesige Sorgen darüber, was passieren würde, wenn das alles nicht von Tag eins an voll funktioniert."
Aber Dover hat noch ein anderes Problem. Regierungschefin May erwartet, dass der neue französische Staatspräsident Emmanuel Macron die sogenannte Le-Touquet-Vereinbarung von 2003 neu verhandeln will. Das hat Macron, als Wirtschaftsminister und als Präsidentschafts-Kandidat, selbst in Aussicht gestellt.
Le Touquet bezeichnet den britisch-französischen Deal, mit dem die britischen Grenzkontrollen nach Calais und die französischen nach Dover und Folkestone verlegt wurden. Dadurch sollte durch Vorab-Kontrolle von Pässen und Frachten der Kanal-Verkehr zügiger gestaltet werden.
Eine der Folgen der Vereinbarung aber war, dass Flüchtlinge und Migranten, die in späteren Jahren nach England drängten, in Calais und an anderen Orten entlang der französischen Küste ihre Lager aufschlugen - und viele bis heute dort fest sitzen. Allen in Calais, wo das sogenannte Dschungellager erst vor wenigen Monaten geräumt wurde, sind wieder hunderte Menschen versammelt. Frankreich aber, hat Macron angedeutet, könne nicht länger die Verantwortung für diese Situation zugemutet werden. Vor allem wenn Großbritannien aus der EU austrete, sei der Deal von Le Touquet "in Gefahr".
Nun ist die Vereinbarung der vorgeschobenen Grenzen nicht im EU-Recht verankert, sondern eine von der Union geduldete bilaterale Absprache. Inzwischen räumt May ein, dass die Situation mit Macron "zu besprechen" sei. Die gegenwärtige Regelung liege zweifellos im Interesse beider Seiten, findet die Britin. Der Vertrag kann jedoch ohne weiteres von einer Seite aufgelöst werden, mit zweijähriger Übergangszeit bis zur Rückkehr zur Vergangenheit.
"95 Prozent" der Ortsansässigen seien aber strikt gegen die Rückverlegung der britischen Grenzkontrollen auf die britische Seite, meint Dovers Labour-Stadtrat Nathaniel Richards: "Unser Hafen wäre nicht mehr in der Lage, damit fertig zu werden." Daran hatten die Brexit-Wähler in Dover im Vorjahr nicht gedacht.