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Doyenne der Zeitgeschichte, Vorbild für Zivilcourage

Von Hubert Christian Ehalt*

Politik

Erika Weinzierl, Doyenne der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, Geisteswissenschafterin, die es nie als unfein empfand, ihre Positionen auch in einer größeren Öffentlichkeit mit Engagement zu vertreten, und mahnendes Gewissen der Nation, feierte am 6. Juni ihren 80. Geburtstag.


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Die Wiener Vorlesungen, das Dialogforum der Stadt Wien, feierten die renommierte Historikerin am 6. Juni mit Laudationes von Schülerinnen und Schülern. "Alle Dinge, die differenziert nicht abgehandelt werden, kommen" - so heißt es bei dem jung verstorbenen österreichischen Dramatiker Werner Schwab - "später vulgär zurück". Man kann Werk und Wirken von Erika Weinzierl unter diesem Motto sehen: Es ist notwendig, überall dort, wissenschaftlich genau auszuleuchten, wo Dinge unter den Teppich gekehrt wurden.

Die Geschichte Österreichs nach 1945 war eine Erfolgsgeschichte, die jedoch im Hinblick auf das Verhältnis zum Nationalsozialismus und vor allem dessen Erinnerung mit vielen blinden Flecken versehen war. Bis 30 Jahre nach dem Krieg hatten sich Wissenschafter und Lehrer an Universitäten und Schulen kaum mit der Beteiligung von Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Und der Prozentsatz von Österreichern an der Zahl dieser Verbrecher war sehr hoch.

Dank an die Jubilarin

Es ist wenigen Persönlichkeiten, zu denen Erika Weinzierl in erster Reihe zählt, zu danken, dass diese kritische Auseinandersetzung in den 60er-Jahren begonnen wurde. Seit dem Beginn der 60er-Jahre hatte sie sich der Erforschung des Verhältnisses von Kirche und Nationalsozialismus angenommen; und im Jahr 1969 erschien erstmals ihr Buch "Zu wenig Gerechte. Österreich und Judenverfolgung 1938-1945". Erika Weinzierl hat universitär in ihrem Fach, aber auch in der akademischen Kultur viel in Bewegung gebracht.

Als eine der ersten Professorinnen in Österreich hat sie sich für junge, ausgezeichnete Wissenschafterinnen eingesetzt und Mitte der 70er-Jahre ein Buch "Emanzipation? Österreichische Frauen im 20. Jahrhundert" veröffentlicht. Im Jahr 1968 hat Erika Weinzierl über zwei Semester ihre berühmten Totalitarismustheorie-Seminare abgehalten. Der Seminarraum war damals berstend voll, es gab heiße Diskussionen, und viele der Studierenden von damals sagen auch heute noch, dass das revolutionäre Erlebnis von 1968 für sie das Totalitarismus-Seminar bei "der Weinzierl" war.

Für die gedeihliche Entwicklung einer Gesellschaft sind Zivilcourage, Fähigkeit und Bereitschaft, Kritik zu äußern, soziale Verantwortung zu übernehmen und solidarisch zu handeln, genauso wichtig wie kühle ökonomische Rationalität.

Erika Weinzierl ist ein Vorbild für exzellente und kritische Wissenschaft ebenso wie für zivilcouragiertes Handeln.

Ad multos annos!

*Univ.-Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt ist Wissenschaftsförderungsreferent der Stadt Wien