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Dr. Jekyll und fliegender Mr. Hyde

Von Vera Bettenworth

Wissen

Seit Jahrtausenden hinterlassen Heuschreckenschwärme Schneisen der Verwüstung. Neuere Ansätze konzentrieren sich auf das Individuum und fragen nach dem Mechanismus, der den harmlosen Einzelgänger zum Teil einer bedrohlichen Heuschrecken-Flut werden lässt. Denn normalerweise lebt die Wüstenheuschrecke Schistocerca gregaria als eingefleischte Einzelgängerin und geht ihren Artgenossen aus dem Weg. Von Zeit zu Zeit jedoch formieren sich die eigentlich harmlosen Tiere zu riesigen Schwärmen. Die Mitglieder eines solchen Schwarms stimmen ihr Verhalten völlig aufeinander ab. Einzelne Heuschrecken, die zufällig auf die wandernden Massen treffen, werden assimiliert.


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Die Wanderrichtung wird meist vom Wind bestimmt - nicht umsonst nennt der Koran Heuschrecken "die Zähne des Windes". Und auch die Rastplätze sind klimatisch bedingt: Durch Regenschauer oder Abendkühle etwa sinkt die Körpertemperatur der Insekten und sie unterbrechen ihren Flug. Bei gutem Wetter legen die Schwärme zwischen 30 und 50 km am Tag zurück.

Wo ein solcher Schwarm auftaucht, verdunkelt sich der Himmel und die Luft ist erfüllt vom Surren der Insekten. Jeden Tag fressen die Heuschrecken ihr eigenes Körpergewicht - im Fall von Schistocerca gregaria "nur" zwei Gramm. Doch Schwärme von mehreren Milliarden Tieren sind keine Seltenheit und es wird sogar von Plagen berichtet, die 250 Milliarden Exemplare umfasst haben sollen. Und so verschlingt ein Schwarm Wüstenheuschrecken täglich einige Tausend Tonnen Pflanzen. Lässt sich eine solche Wolke nieder, fällt ihr jede Pflanze, jedes Blatt, jeder Halm zum Opfer. Was bleibt, kommt einer Wüste gleich.

Alles verändert sich

Doch der Wandel von der harmlosen solitären Lebensweise (Phasis solitaria) zur Wanderphase (Phasis gregaria) beschränkt sich nicht auf das Verhalten der Tiere; auch die Morphologie, Farbe und Zeichnung, Entwicklung und nicht zuletzt die Fortpflanzung sind betroffen. Wanderheuschrecken sind ein Paradebeispiel für die sogenannte phänotypische Formbarkeit (phenotypic plasticity). Die Köpfe der adulten Tiere werden massiger, die Augen kleiner und die Mäuler breiter. Statt der dezent grünen Färbung der Solitärphase tragen sie plötzlich gelb und schwarz. Schon die Larven sind grösser, wachsen schneller heran und die Tiere beginnen früher mit der Vermehrung.

Dieselbe Art

Kurz: die Individuen der verschiedenen Phasen unterscheiden sich so stark, dass man lange Zeit dachte, es handle sich um zwei verschiedene Arten. Inzwischen hat man den Irrtum erkannt. Doch wie kommt es zu dieser Transformation vom Einzelgänger zum geordneten Mega-Organismus, von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde?

Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass für diesen Phasenwechsel die Gegenwart anderer Heuschrecken notwendig ist. Steckt man eine als Einzelgängerin grossgezogene Schistocerca gregaria in einen Käfig mit Artgenossinnen in der Wanderphase, so zeigt sie nach vier Stunden bereits erste Anzeichen der Transformation. Die vollständige Wandlung vollzieht sich allerdings über mehrere Generationen - schwärmende Weibchen versehen ihre Eier mit einem Sekret, das die Larven schon beim Schlüpfen auf die Wanderphase prägt. Diese Prägung kann unterschiedlich stark ausfallen, je nachdem, wie viel Schwarm-Erfahrung sowohl Mutter als auch Vater haben.

Für die Transformation der adulten Heuschrecke hat man inzwischen mehrere Schlüsselreize identifiziert. Neben dem visuellen Reiz einer grosser Horde Artgenossen kennt man verschiedene Duftstoffe, die der innerartlichen Kommunikation dienen. Einige dieser sogenannten Pheromone regulieren das Schwarmverhalten von Jungtieren und Erwachsenen, andere sorgen dafür, dass die Insekten sich alle zur gleichen Zeit paaren und synchron ihre Eier ablegen. Ein weiterer Signalstoff lockt die trächtigen Weibchen an einen gemeinsamen Eiablageort. Der stärkste Reiz soll allerdings die gegenseitige Berührung am hinteren Femur, dem Oberschenkel des dritten Beinpaars, sein.

Diese Beobachtung machten Wissenschaftler der Universität Oxford im vergangenen Jahr. Über einen Zeitraum von vier Stunden strichen sie solitären Wüstenheuschrecken einmal pro Minute mit einem dünnen Pinsel über eines von elf verschiedenen Körperteilen. Um die Wirkung dieser Stimulation zu testen, wurden die Insekten anschliessend in die Mitte eines Käfig gesetzt, auf dessen einer Seite hinter einer Plastikwand 20 Schistocerca gregaria in der Wanderphase zu sehen waren, während sich auf der gegenüberliegenden Seite ein leerer Raum befand.

Aus den Bewegungen des Versuchstiers im Käfig konnten die Forscher dann schliessen, ob es mit einem Phasenwechsel auf die Berührungen reagierte - nach erfolgter Transformation suchen die Wüstenheuschrecken die Nähe ihrer Artgenossen, sonst ziehen sie die Einsamkeit vor. Das Ergebnis: Nur die Stimulation am hinteren Femur führt zu einer signifikanten Änderung des Verhaltens zur Wanderphase.

Neue Strategien gegen Plage

Doch die aktuelle Forschung kann auch helfen, neue Strategien im Kampf gegen die Plage zu entwickeln oder bestehende Methoden zu verbessern. So wurde erst im April gezeigt, dass die Sensitivität der Wüstenheuschrecken gegenüber bestimmten biologischen Schädlingsbekämpfungsmitteln mit dem Phasenwechsel abnimmt. Der Hintergrund: Je dichter Individuen einer Art leben, desto leichter können artspezifische Krankheitserreger und Parasiten übertragen werden. Besonders gross ist die Gefahr folglich, wenn sich Milliarden Heuschrecken auf engstem Raum drängen. Eigentlich dürfte es die Schwärme gar nicht geben - es sei denn, die Tiere sind in der Lage, entsprechende Vorsichtsmassnahmen zu treffen.

Die natürliche Selektion sollte also Individuen hervorbringen, die - je nach Populationsdichte - regulieren können, wie viel Energie sie in Abwehrmechanismen stecken. Dieses Phänomen der Dichte-abhängigen Prophylaxe (density dependent prophylaxis) wurde erstmals 1998 beschrieben und konnte seitdem in verschiedenen Organismen mit Phasenwechseln nachgewiesen werden, darunter eine Käfer- und mehrere Schmetterlingsarten. Jetzt wurde gezeigt, dass auch Wüstenheuschrecken ihre Abwehrsysteme hoch regulieren, wenn sie im Schwarm fliegen.

Vereint stärker

Die Wissenschaftler infizierten dazu solitäre und schwärmende Wüstenheuschrecken mit Sporen von Metarhizium anisopliae, einem Heuschrecken-pathogenen Pilz. Individuen beider Phasen reagierten mit erhöhter Körpertemperatur auf die Infektion, doch starben signifikant mehr solitäre Heuschrecken als solche in der Wanderphase. Der genaue Mechanismus dieser erhöhten Resistenz ist noch unklar, doch die Forscher vermuten eine vermehrte Abwehraktivität der Hämolymphe. Eine gesteigerte antibakterielle Aktivität des Insekten-Blutes konnte bereits nachgewiesen werden, Hinweise auf speziell gegen Pilze gerichtete Mechanismen stehen allerdings noch aus.