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Chongqing ist nicht irgendeine Stadt in Mittelchina, die zufällig irgendwie wichtig wird. Chongqing war immer dran an Geschehen, trotz oder wegen seiner Lage, fast 2000 km von der Ostküste entfernt: An der Schnittstelle von Jangtse, Asiens größtem Fluss und wichtigstem Schifffahrtsweg landeinwärts, und zahlreichen Handelsrouten der Seidenstraße gelegen, wurde die Stadt 1891 zum ersten Inlandshafen, der für den Außenhandel geöffnet wurde. Reedereien wie die britische "Butterfield & Swire" verdienten sich unter dem Schutz chinesischer Kanonenboote goldene Nasen. Während des Zweiten Weltkrieges war Chongqing sogar Regierungssitz, der sicher vor japanischer Annexion schien: Ab 1938 wurden zahlreiche Indus-triebetriebe von der Ostküste hierher verlegt, bis japanische Geschwader den Ballungsraum im rohstoffreichen Roten Becken in Schutt und Asche bombten.
Offene Stadt am Jangtse
Bis 1949 unter Chiang Kai-shek Hochburg der chinesischen Nationalisten, wurde die Stadt 1954 der Provinz Sichuan einverleibt und büßte während der Kulturrevolution (1966-1976) bitter für ihre anti-kommunistische Vergangenheit. Kein Wunder, dass kaum eine andere Region die ersten privatwirtschaftlichen Lockerungen unter Zhao Ziyang und später Deng Xiaoping derart effektiv zu nutzen verstand - Chongqing erhielt 1983 das Verwaltungsrecht für Wirtschaft auf Provinzebene und wurde 1992 zur ersten offenen Stadt am Jangtse erklärt, wo das ambitiöse Drei-Schluchten-Dammprojekt allmählich konkrete Gestalt annahm: eine stinkende, ölige, rauchige Stadt, mit der die Zentralregierung in Peking viel vor hatte.
Noch im Jahr 2000 verdienten chinesische Stadtbewohner durchschnittlich dreimal mehr als Bauern. Im Jahr 2010 schon fünf Mal so viel - das ist gesellschaftlicher Sprengstoff, weil sich der Reichtum des Ostens nicht mehr verbergen lässt und auch in den Steppen Gansus und den Wüsten Xinjiangs die glitzernden Skylines zum TV-Thema geworden sind: Die Go-West-Politik, eine Art Marshall-Plan zur Entwicklung der innerchinesischen Peripherie, sollte Industrie und Wohlstand so schnell ins Landesinnere bringen, dass sich ein Zuzug in die funkelnden Neon-Traum-Landschaften von Shanghai bis Shenzhen nicht mehr rechnen würde. Chongqing wurde der Brückenkopf.
Seit 1999 hat sich China das Programm rund 180 Milliarden Euro kosten lassen, allein in Chongqing 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und 1,6 Millionen Bauern zu Arbeitern umgeschult. Das Import- und Exportvolumen der Stadtregion übersteigt eine Milliarde Euro. Es gibt dort inzwischen über 300 Außenhandelsunternehmen, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit mehr als 140 Ländern und Regionen der Welt aufgenommen haben; in 28 davon wurden über 70 Unternehmen und Handelsvertretungen errichtet. Seit 1999 haben 120 der 500 Top-Unternehmen der Welt hunderte Zweigstellen gegründet.
Günstige Lage
Lohnkosten, Steuerbelastung und Grundstückspreise sind hier deutlich geringer als an Chinas Ostküste, Energieversorgung und Zugänglichkeit für Containerschiffe scheinen durch das Drei-Schluchten-Projekt gesichert: 10.000-Tonnen-Frachter schaffen es seither über 1500 km landeinwärts bis Chongqing, dem "Drachenschwanz" am Westende des 600-km-Stausees, der seit der offiziellen Fertigstellung 2009 nicht weiter steigen wird. Die Transportkosten bis Shanghai, dem "Drachenkopf", sind um ein Drittel gesunken. Und die Gesamttonnage am Fluss hat sich verfünffacht.
Aus der anti-japanischen und, später, anti-sowjetischen Rüstungsindustrie entwickelten sich zunächst Maschinenbauindustrien (vor allem die Produktion von Autos und Motorrädern), chemische Industrien (Herstellung von Naturglas und Medikamenten) sowie Hüttenindustrien (vor allem Qualitätsstahl- und Aluminiumprodukte) - allesamt nicht unbedingt schadstoffarme Produktionen: Changan baute hier den Ford Mondeo, Lifan setzt auf Fertigungsstraßen von BMW; Aokang fertigt eine Million Paar Schuhe jährlich, Haier produziert Kühlschränke, HP und BASF sind auch schon lange da. ABB konstruiert die größten Trafos der Welt, für das größte Wasserkraftwerk der Welt, am anderen Ende des großen Stausees. "2010 werden wir das wirtschaftliche Gewicht Shanghais erreichen, 2017 dasjenige Hongkongs", sagte Huang Qifan, seit 2009 Bürgermeister von Chongqing und stellvertretender Generalsekretär der Kommunistischen Partei, vor einiger Zeit.
Das Planziel Shanghai wurde nicht ganz erreicht, und so ist Diversifizierung angesagt: Der generalstabsmäßige Wandel von der dreckig-grauen Stahlstadt zur nachhaltig-grünen Muster-Metropole hat oberste Priorität, nicht ohne Grund. Im Winter legt sich über Monate Nebel über das hügelige Häusermeer am Zusammenfluss von Jangtse und Jialing, wo die Smogglocke seit den (Schwer-)Industrieansiedlungen der 1950er auch im Sommer kaum je verschwindet.
Selbst 2004 enthielt die Stadtluft noch sechsmal mehr krebserregende Stoffe als die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation vorgeben.
Auslagerungen
Das soll sich rasch ändern. Und so werden die innerstädtischen Kohlekraftwerke und Zementfabriken sukzessive ins Umland ausgelagert, mit politischem Druck und steuerlichen Anreizen: Bei Chongqing Iron & Steel kostete es fünf Jahre und drei Milliarden Euro, bis einer der Schlüsselbetriebe der Region endlich aus dem Zentrum draußen war. Im alten Firmengelände entstehen jetzt Apartmentblocks für Software- Firmen, und die lokale Kunstszene hat schon ihr Interesse an den Schornsteinen angemeldet.
Alt ist schick geworden, zumindest in Jiangfangbei, dem Stadtzentrum rund um das Denkmal der Befreiung, wo immer noch Schmorfrosch und Schweineschnauzen, Tigerfellschoten und Schlangenbohnen aus Ingwer um ein paar Yuan gegart werden - vor den getönten Scheiben von Armani und Ferrari-Outlets.

Abends, wenn der Smog sich mit den Nebeln vom Fluss vermischt, verschwindet das reiche und schöne China unter der Erde: In den Hotspots des Nightlife, wie der "023Bar" oder dem "Sohu Club", wo eine Flasche Johnnie Walker Gold Label so viel kostet wie ein Wanderarbeiter in einem Vierteljahr verdient.
Um zukunftsfähige Nachhaltigkeit wird aktiv geworben: Neue Industrieparks werden bereits im Vorfeld mit potentiellen Interessenten gemeinsam geplant, wie der deutsche Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft berichtet.
Ein Beispiel ist der "European Business Park" im suburbanen Distrikt Banan: Auf zwanzig Quadratkilometer sollen sich deutsche High-Tech-Unternehmen aus den Bereichen Umwelt- und Antriebstechnik ansiedeln - ein liebliches Areal mit Bambuswäldern und Reisterrassen, Niedrigenergiehäusern mit Erdwärme, Fahrspuren für Elektromobile und Stromtankstellen und allem Notwendigen, "damit sich die Deutschen wohlfühlen", wie Johnson Lee, unermüdlicher Enterprise Hunter und hauptberuflich Parteifunktionär, auf seinen Werbefeldzügen durch Mitteleuropa klarmacht. Eigentlich heißt er Jiangchun Li, doch das klingt weniger amerikanisch-dynamisch. Was ist schon ein Name, wenn es um die Sache geht?
Aufschwungskonzepte
Und die Sache ist klar: Chongqing, ein Themenpark planwirtschaftlicher Selbstverwirklichung, soll die beste Stadt der Welt werden - mit einer stabilen, glücklichen, weil konsumhungrigen Mittelschicht und immer blauem Himmel. Dafür braucht es Investitionen von 100 Milliarden Dollar jährlich. "Prägen Sie in Ihr Gehirn", übersetzt Li’s Dolmetsch bei einem Geschäftsessen vor Berliner Unternehmern holprig, "die neue Stadt ist Chongqing."
Wenn China ein überdimensionales Versuchslabor für ein neues Gesellschaftsmodell sein will, ist Chongqing sein erstes großes Experiment. Schon 2005 tönte Zhou Bin, Leiter der Wirtschaftskommission in Chongqing: "Bis 2010 bauen wir acht Brücken über unsere Flüsse, acht neue Autobahnen und acht Eisenbahnlinien". Ganz so viele wurden es nicht, doch Acht ist in China eine Glückszahl. Er hat fast Recht behalten: Die beiden Gondelbahnen, die die beiden Flussufer verbinden, verkehren zwar immer noch, denn Touristenattraktionen können nicht schaden; doch die ringförmigen Stadtautobahnen wurden schneller umgesetzt als geplant, weil Bürgerbeteiligung und Umweltverträglichkeitsgutachten nicht in die schöne, neue chinesische Welt passen. Und die Schienenverbindungen ermöglichen heute schon einen Gütertransport nach Rotterdam in 13 Tagen.
Jiangchun Li tut, was sein Vorgesetzter will. Und der ist seit 2007 Parteichef der Stadt, früherer chinesischer Handelsminister und Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas: Bo Xilai, ein "Prinzling", also ein Sohn eines verdienten Parteikaders, populistischer Selbstdarsteller und durchsetzungsgewaltiger Macher. Seit er das Kommando übernommen hat, weht ein frischer Wind durch die Metropole.
Bo Xilai selbst sieht das Projekt Chongqing als politisches Sprungbrett nach ganz oben: Auf dem derzeit tagenden "Nationalen Volkskongress" zählt er zu den einflussreichsten Delegierten, während sein Polizeichef Wang Lijun, der seinen Chef kürzlich als "Mafia-Boss" bezeichnet und im Konsulat der USA Schutz gesucht hatte, als "Verräter" bezeichnet wird. Ob Bo Xilais Weg an die Spitze der Staatsführung allerdings schon geebnet ist, muss sich noch zeigen.
Chongqing hat als eine von vier Städten, die der Zentralregierung direkt unterstellt ist, alle Freiheiten, die die Kommunistische Partei bieten kann - ein gewaltiges Freiluftlabor stadt- und sozialgeographischer Visionen, wo Widerspruch immer noch als Volksverrat ausgelegt wird. 1997 wurde die Stadt Chongqing der Provinz Sichuan ausgegliedert und gemeinsam mit 43 Umlandgemeinden - die meisten davon entlang des lange geplanten Jangtse-Stausees - zur regierungsunmittelbaren Stadtgemeinde erklärt. Die Fläche des neuen Konglomerats entspricht mit etwa 83.000 Quadratkilometern der österreichischen Staatsfläche, beherbergt 33 Millionen Menschen und gilt als (flächenmäßig) größte Stadt der Welt, wenn auch in der eigentlichen Kernstadt bloß rund fünf Millionen Menschen und im unmittelbaren Ballungsraum rundum etwa 13 Millionen leben. Doch das ändert sich täglich. Und Siedlungsgrenzen sind kaum mehr auszumachen.
Wie es scheint, ist der Bauboom nicht zu bremsen. Derzeit hat die Stadtregierung sichtlich kaum Interesse daran, der suburbanen Zersiedlung bauwütiger Immobilienkonzerne Einhalt zu gebieten: Diese haben, quasi nebenbei und nicht unerwünscht, das Stadtzentrum von den Bangbangjun befreit, den Heerscharen zerlumpter Bauern aus ganz Westchina, die früher überall darauf warteten, mit ihren Bambus-Tragestangen CD-Player und Mehlsäcke vom Hafen in die Stadt und umgekehrt zu schleppen. Die Stadt ist erste Anlaufstelle für die Armee der Armen aus dem Westen: Auf der Suche nach dem Wohlstand strömen sie ostwärts, der Küste entgegen. Eine halbe Million Menschen zieht Jahr für Jahr durch das riesige Stadtgebiet, und die meisten bleiben - vorerst. Sie werden derzeit dringend für die Errichtung neuer gesichtsloser Glas-Beton-Türme benötigt, die im Metropolgebiet überall aus den Hügeln schießen.
Dazu kommen offiziell rund 200.000 arbeitslose Fabriksarbeiter, deren Firmen geflutet wurden oder die in den maroden Staatsbetrieben nicht mehr gebraucht werden; vorsichtige Schätzungen kalkulieren weitere rund 500.000 ungelernte und volkswirtschaftlich überflüssige Industriearbeiter, die mit Bauen und Betonieren beschäftigt werden, um soziale Unruhen im Keim zu ersticken. Vor allem in den Vorstädten bleibt nichts, wie es war - die meisten Bauten aus den 1980er-Jahren (und älter) werden abgerissen, die Flächen begradigt und vielstöckige Neubauten errichtet.
Dass viele der neuen Wolkenkratzer derzeit von keinem gebraucht werden, scheint Nebensache zu sein. Es fragt sich, was mit den neuen Spekulationsobjekten mitten im Reich der Mitte geschehen soll - selbst in Pudong, Shanghais Finanzdistrikt, steht die Hälfte der seit 1991 errichteten Bürotürme leer. Mangel an Gigantomanie ist der Regionalplanung nicht vorzuwerfen.
Zwangsumsiedelungen
Gezielte Zuwanderung soll den Schwung der Ostküste auch stromaufwärts ins Landesinnere tragen. Über eine Million sind allerdings nicht ganz freiwillig da, weil sie im Zuge des Dammbaus und des folgenden Aufstaus ab 2003 zwangsumgesiedelt wurden. Weitere vier Millionen werden bis 2020 ihre Häuser und Dörfer entlang der neuen, dutzende Meter höheren Stauseeufer verlassen (müssen), weil die neue künstliche Kloake nur fragwürdige Lebensqualität und unsicheren Lebensunterhalt bieten kann.
Mit der Flutung des historischen Kernraumes Zentralchinas gingen nicht nur Kulturgüter verloren, sondern verschwanden auch Dörfer, Fabriken, Deponien und Chemietanks unter den Wassern, deren geringe Fließgeschwindigkeit hinter dem Damm eine Entgiftung der braunen Brühe kaum noch zulässt.
Alles unter Kontrolle, wie die Beamten des städtischen Umweltamtes beschwichtigen: Die Umweltauswirkungen der Wasserspeicherung im Stausee seien hundertprozentig kontrollierbar, die Schadstoffemissionen liegen zu 95 Prozent innerhalb der Toleranzstandards. Die Abwasserreinigungsrate mache 72 Prozent aus, der Anteil an aufbereitetem Abfall habe 90 Prozent erreicht, zudem sollen demnächst 20 neue Kläranlagen in Betrieb gehen. Das Wann und Wo bleibt offen.
Chongqing ist Chefsache geworden. Bei aller Euphorie an den Reißbrettern der Regionalplaner: Vielen geht manches zu schnell, zu grell, zu glatt. Vor allem in den jüngsten Boomjahren war zu viel Geld im Spiel, als dass sich nicht wenige auf Kosten vieler bereichert hätten. Chiang Kai-shek scheint wieder eingezogen zu sein: Kapitalismus um jeden Preis, doch verbrämt mit chinesischem Nationalismus auf Parteilinie scheint das jüngste Motto zu sein, seit der neue starke Mann der Stadt einen Feldzug gegen Gangster und korrupte Kader führt: Chongqing soll nicht Chicago werden, auch wenn die neue Downtown 2014 ihren ersten 400 Meter hohen Turm bekommt.
Maos Rückkehr
Gefängnisstrafen für betrunkene Autofahrer sind an der Tagesordnung, doch vergleichsweise harmlos. "Zerschlagt das Schwarze", nennt Bo Xilai seine Kampagne, in dessen Verlauf gegen Auftragsmorde und Glücksspiel, Korruption und Prostitution so gnadenlos wie erfolgreich vorgegangen wurde - dazu gehören auch die Aushebelung der Gewaltenteilung und direkte Einflussnahme der Exekutive auf die Gerichte, ganz in der Tradition vielfach vergessener und verdrängter Zeiten.
Mao Zedong ist jedenfalls wieder da, Bo Xilai forciert Massenbewegungen zur Wiederbelebung altroter Traditionen aus den Frühjahren der Volksrepublik: Kürzlich wurden mehr als 250.000 Beamte zur Landarbeit abkommandiert, Tausende Bäume gepflanzt und Studenten aufgerufen, ein Semester der körperlichen Arbeit zu widmen - eine neue Kulturrevolution, die Rückbesinnung auf alte Ideologien gegen verschwimmende, globalisierende Identitäten?
Kurznachrichten werden mit Mao-Zitaten verbrämt, städtische Fernsehsender zeigen altes Revolutionskino, das Liedgut der Revolution - zum Beispiel die "Ode an die Rote Fahne" - gehört wieder zum Repertoire der Stadtchöre: Die Lieder erinnern an Zeiten, "als das Leben noch viel einfacher schien", erklärt Tang Zemin, der Dirigent des Chores. Er denkt wohl nicht alleine so.
Eine Million Kameras sollen in Hinkunft Chongqings Straßen kontrollieren, gesteuert und überwacht von mobilen Polizeitrupps mit brandneuen Laptops made in town. Bo Xilai wurde übrigens vom amerikanischen "Time Magazine" 2010 zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt. Das planwirtschaftliche Experiment am Drachenschwanz glänzt neongrün und wird dabei immer röter. Mao und Bo können zufrieden sein.
Günter Spreitzhofer, geboren 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung (Universität Wien).