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Draufgänger und Angsthasen

Von Kerstin Viering

Wissen
Auch Kohlmeisen können mutig sein - oder auch nicht.
© © Alexander von Düren - Fotolia

Unterschiedliche Charaktere tragen zur Weiterentwicklung der Art bei.


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Berlin. Ein komisches Ding! Riecht nach Apfel und fühlt sich auch so an. Ist aber flach, herzförmig und knallrot. Kann das trotzdem schmecken? Oder soll man lieber die Finger davon lassen?

Die Gorillas im Leipziger Zoo wissen manchmal nicht so recht, was sie von Jana Uhers Mitbringseln halten sollen. Dabei hat sich die Psychologin von der Freien Universität (FU) Berlin extra die Mühe gemacht, Äpfel und Birnen in Scheiben zu schneiden, mit Keksformen Motive auszustechen und das Ganze mit Lebensmittelfarben bunt zu gestalten. "Manche Tiere werfen einem das merkwürdig aussehende Futter sofort wieder vor die Füße", berichtet die Forscherin. Andere dagegen untersuchen die seltsamen Objekte, riechen an ihnen und fressen sie schließlich. Und wieder andere sehen sie mehr als Spielzeug denn als Leckerbissen.

Auch unter Gorillas ist keineswegs einer so neugierig oder experimentierfreudig wie der andere. Diese Unterschiede faszinieren Jana Uher. Sie leitet an der FU eine Gruppe, die Persönlichkeitsunterschiede bei Primatenarten untersucht. Tiere mit Persönlichkeit? Eine solche Idee hätten die meisten Verhaltensforscher noch vor ein paar Jahrzehnten weit von sich gewiesen. Ein Gorilla sei wie der andere, sein Verhalten hänge von Alter und Geschlecht ab, hieß es. Einem Affen mehr Mut, Angst oder Fürsorglichkeit zuzuschreiben als einem anderen galt als unzulässige Vermenschlichung.

Inzwischen sehen immer mehr Biologen und Psychologen das anders. Uher hatte etwa den Gorillas des Leipziger Zoos die Wahl gelassen, ob sie lieber vier Rosinen haben wollten oder nur eine, doch sie erhielten nie die erwünschte Portion. "Manche bekamen daraufhin regelrechte Wutausbrüche und trommelten gegen die Scheiben", beschreibt sie die impulsiveren Charaktere. Andere ließen nur den Kopf hängen und seufzten tief. Wieder andere beschäftigten sich scheinbar hoch konzentriert mit ihren Haaren - als wollten sie sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen. Rasch wurde klar, dass jedes Tier seine typische Art hatte, mit Frust umzugehen. Und die legte es auch beim 20. Versuchsdurchgang nicht ab. Gorilla-Choleriker können offenbar genauso schlecht aus ihrer Haut wie ihre menschlichen Pendants.

Fasziniert beschloss die Psychologin, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Mittlerweile untersucht sie nicht nur das Verhalten von Menschenaffen, sondern auch das von Kapuziner-, Java- und Rhesusaffen und kooperiert dabei mit anderen Instituten.

Unterschiedlich verfressen

Um die verschiedenen Wesenszüge von Affen möglichst objektiv analysieren zu können, hat die Psychologin neue Forschungsansätze entwickelt. Aufschlussreich ist etwa, wie sich ein Tier in seiner Gruppe verhält: Wie oft sucht es Kontakt zu anderen? Ist es dabei eher aggressiv oder freundlich? Spielt es oft oder sitzt es eher passiv herum? Hinzu kommen Verhaltensexperimente, an denen die Tiere freiwillig teilnehmen. Da geht es zum Beispiel darum, den Grad ihrer Verfressenheit festzustellen. Denn auf eine Auswahl verschiedener Obst- und Gemüsesorten reagieren keineswegs alle Artgenossen gleich. Während manche ziemlich wahllos alles in sich hineinstopfen, sind andere echte Feinschmecker.

Die Forscher suchen nicht für alle von Menschen bekannten Wesenszüge eine Entsprechung. Sehr ursprüngliche Eigenschaften wie Ängstlichkeit, Aggressivität, Neugier und Impulsivität dürften jedoch auch in Affenkreisen weit verbreitet sein. Und nicht nur dort. Am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen wurde nachgewiesen, dass es auch unter Kohlmeisen Angsthasen und Draufgänger gibt. So lassen sich manche Vögel von einer Plastikfigur des rosaroten Panthers neben ihrem Futternapf nicht beeindrucken, während andere einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das Ungetüm legen.

Um Persönlichkeit zu zeigen, braucht man nicht unbedingt ein Rückgrat. Sogar unter Tintenfischen gibt es unterschiedlich gestrickte Typen. David Sinn von der University of Tasmania in Australien hat den Weichtieren eine schmackhafte Garnele vorgesetzt und sie gleichzeitig mit einem Bleistift bedroht. Die aggressiveren unter den vielarmigen Krabbenfans griffen den hölzernen Feind ohne zu zögern an. Die vorsichtigeren gaben den Leckerbissen sofort auf, stießen eine riesige Tintenwolke aus und machten sich eilig aus dem Staub.

Fragt sich, was das Ganze soll. Evolutionsbiologen gingen noch bis Ende der 1990er Jahre davon aus, dass es für jede Art ein optimales Verhalten gibt. Warum sollten also einzelne Individualisten aus der Reihe tanzen? Da sich die Umwelt ständig verändert, sind Tierarten immer wieder mit neuen Situationen konfrontiert. Mal sind eher die Draufgänger im Vorteil, mal die Vorsichtigen. Wenn es zum Beispiel gilt, einen neuen Lebensraum zu erschließen, wird das mit einer Gruppe aus lauter Angsthasen kaum klappen.

Verblüffende Beobachtung

Zudem gibt es zwischen unterschiedlichen Persönlichkeiten oft weniger Rivalitäten. Der Psychologe John Capitanio von der University of California hat zufällig ausgesuchte Rhesusaffen-Männchen zu neuen Gruppen zusammengestellt - und dabei Verblüffendes beobachtet. In Gruppen mit lauter besonders sozial eingestellten Mitgliedern flogen viel häufiger die Fetzen, als wenn auch ein paar Eigenbrötler dabei waren. Offenbar gab es zwischen den geselligen Typen eine scharfe Konkurrenz um Freundschaften. Und da sie oft besonders eng zusammensaßen, brach dann auch noch häufig Streit ums Futter aus.

"Eine Gruppe scheint sozial besser zu funktionieren, wenn sich unterschiedliche Persönlichkeiten ergänzen", sagt Uher. "Es war bestimmt nicht jeder unserer Urahnen bereit, sich mit dem Feuer zu beschäftigen." Den ängstlichen Vertretern seiner Art hat der Mensch die Erfindung des Barbecues wohl nicht zu verdanken. Dafür konnten diese dann dafür sorgen, dass ihre mutigeren Kollegen nicht gleich die ganze Höhleneinrichtung abfackelten.

Persönlichkeitsunterschiede bei Primatenarten