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Eigentlich wollte ich partout nichts über die Fußball-WM schreiben. Aber ich schaffe es nicht: Es wäre sträflich, als Chronist an diesem Ereignis unberührt vorbeizugehen. Vorbeizu-sehen ist sowieso unmöglich.
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Zunächst ist die WM "typisch deutsch": Viel Blabla, aber am Ende ist doch alles bestens organisiert. Trotz angeblicher Finanznot ist Geld in Fülle vorhanden.
Jedes noch so geringfügige Detail wird mit heiligem Ernst "ausdiskutiert". So hat zum Beispiel der "Ex-Ossi" Michael Ballack das Land in Atem gehalten, weil ihm ein Kolumbianer bei einem Probespiel auf die rechte Wade gestiegen war. Fast zwei Wochen lang beschäftigten sich die Medien mit der "Wade der Nation" und der Frage, ob der Liebling der Schwiegermütter überhaupt am Feld zum Einsatz kommen könne.
Viel ernster, wenn auch maßlos aufgebauscht, war die Diskussion über die sogenannten "no-go-areas". Losgetreten von Schröders ehemaligem Regierungssprecher, Uwe-Karsten Heye, mit den Worten: "Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen". Zweifellos gibt es in der ehemaligen DDR einige entlegene Städtchen, in denen Banden von Neonazis im öffentlichen Raum das Sagen haben und die Polizei fast resigniert. Aber noch haben staatliche Organe die Ordnung im Griff, und selbst im fraglichen Brandenburg zählt der Verfassungsschutz nicht mehr als vier rechtsradikale Gewalttaten pro 100.000 Einwohner.
Gewiß, vier zuviel.
Ich würde allerdings als Weißer auch nicht nach 20 Uhr in der South Bronx allein spazieren gehen. Bis auf ein paar Scharmützel mit Hooligans in Dortmund beim Spiel Polen: Deutschland ist die erste WM-Woche recht friedlich verlaufen. Deutschland zeigt der Welt sein freundlichstes Gesicht.
Noch spannender sind die Veränderungen der inneren Befindlichkeit. Die Deutschen entwickeln in diesen Tagen ein zwar begeistertes, aber keineswegs hypertrophes Selbstbewusstsein.
"Einen Schuss mehr Patriotismus finde ich super", erklärte Bundestrainer Jürgen Klinsmann. "Es ist wunderschön zu sehen, wenn die Autos mit den Fahnen durch die Straßen fahren. Das ist etwas, was vereint", sagte Klinsmann.
In der Tat sieht man Flaggen, Fahnen und Wimpel allenthalben - an Wohnhäusern, auf Fan-Köpfen, in Kinderhänden, an Straßenlaternen, in Schaufenstern und auf Verkaufsständen, ja sogar auf den Wagen der städtischen Müllabfuhr. Selbst Berliner Polizeiautos dürfen ihre Neutralitätspflicht für kurze Zeit vergessen und sich patriotisch schmücken.
Für mich ist der Berliner der Maßstab, weil ihn für gewöhnlich nichts so leicht aus der Ruhe bringt. Diesmal jedoch ist fast ganz Berlin von der Stimmung mitgerissen, täglich jubeln hunderttausende gutgelaunte Menschen die sogenannte "Fanmeile" rauf und runter.
Eine halbe Million waren es, die am Mittwoch den zweiten deutschen WM-Sieg auf Großbildwänden verfolgten. Auf der "Straße des 17. Juni", die an den blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in der DDR erinnert - genau heute vor 53 Jahren.
Gerade diese Erinnerung zeigt den Wandel: Fahnen schwingen, Flaggen hissen und nationale Symbole an den Hut stecken - das war nie Sache der West-Berliner. Das kannte man nur von den organisierten Jubelmärschen der alten Herren aus Pankow.
Nicht einmal am Tag der Deutschen Einheit sieht man so viel demonstrierten Stolz aufs eigene Land. Stünde ich nun auf dem Mond, würde ich Berlin sofort an den "drei Farben Deutschland" erkennen.