Es werde auch nach den Wahlen keine absolute Mehrheit für die konservativen Tories geben, sagt Deirdre Heenan. Die Politologin rechnet mit einer weiteren Brexit-Verschiebung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Labour liegt in den Umfragen hinter den Tories, manche rechnen mit einer absoluten Mehrheit für Boris Johnson. Was macht Labour-Chef Jeremy Corbyn falsch?
Deirdre Heenan: Die Menschen vertrauen Corbyn nicht. Hätte Labour einen anderen Chef, dann könnte die Partei bei den Wahlen am 12. Dezember einen Erdrutschsieg einfahren. So aber gelingt es den Tories, Corbyn zu diskreditieren. Labour hält dem Tory-Chef Boris Johnson die Tür auf, damit er in die Downing Street zurückkehren kann. Die Tories sind in allen Umfragen weit vor Labour - trotz der Lügen und Unwahrheiten, die sie verbreiten. Zuletzt weigerte sich Johnson, Interviews zu geben und schlachtete das tödliche Attentat in London politisch aus. All das scheint ihm aber nicht zu schaden.
Wie ist das möglich?
Die Menschen sehen Johnson als geringeres Übel. Das zeigt, wie beschädigt Corbyns Ansehen ist. Die Menschen verbinden ihn mit Sozialismus und Trotzkismus. Sein Vorschlag zur Besteuerung von Reichen hat einen geringen Einfluss auf Großverdiener, dennoch glauben viele, sie müssten unter Corbyn 40 Prozent ihres Einkommens abgeben. Es ist schwer, der Debatte mit Fakten beizukommen. Die Tories versprechen 50.000 zusätzliche Krankenschwestern, dabei existieren davon bereits rund 20.000 (sie sollen dem staatlichen Gesundheitssystem NHS lediglich erhalten bleiben, Amn.). Dieses Versprechen wurde als Lüge enttarnt, aber die Regierung wiederholt es immer wieder. Die Tories sind dreist, die Wahrheit gerät unter die Räder. Dennoch gewinnen sie die Debatte.
Corbyns Programm scheint den Briten zu sozialistisch zu sein. Oder schafft er es schlicht nicht, seine Ideen unters Volk zu bringen?
Beides ist richtig. Es ist bizarr, dass konservative Minister versprechen, das Chaos der vergangenen zehn Jahre aufzuräumen. Die Tories waren die ganze Zeit in der Regierung! Sie haben uns erzählt, dass für die öffentliche Hand kein Geld da ist. Jetzt wollen sie uns weismachen, dass es selbstverständlich Geld geben wird, auch für das staatliche Gesundheitswesen NHS. Es sollte der Opposition einfach fallen, radikale Veränderungen zu versprechen, doch sie erreicht die Menschen nicht. Labour müsste die Wahlen gewinnen, nicht nur wegen des Brexits, sondern auch wegen des Zustands der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft. Corbyns Wahlprogramm klingt wie ein Wunschzettel von Studenten: Kostenloses Breitband, bessere Bezahlung im Niedriglohnsektor. Corbyns große Idee ist, die Industrie zu verstaatlichen, aber dafür interessieren sich die Menschen nicht, sie sehen nicht, wie das funktionieren kann. Zudem ist etwa die Renationalisierung der Schiene ein teures Langzeitprojekt.
Beide Seiten machen große Versprechen. Johnson will den Brexit durchziehen und dann innerhalb von nicht einmal einem Jahr ein Handelsabkommen mit Brüssel vereinbaren.
Das ist unmöglich. Jeder weiß das, aber niemand fragt nach, wie er das machen will. Kabinettsmitglied Michael Gove behauptet, dass der Zugang des Königreichs zu Teilen des europäischen Markts nach dem Brexit besser würde. Das ist natürlich Unsinn - und Teil des Problems: Politiker müssen sich gar nicht die Mühe machen, glaubwürdig zu sein, weil sie ohnehin niemand hinterfragt. Das ist, in dieser Zuspitzung, neu.
Falls Johnson bei den Wahlen keine absolute Mehrheit erreicht, was bedeutet das für sein Austrittsabkommen - und damit auch für die EU?
Johnson wird wieder Premier, aber ohne absolute Mehrheit. Labour wird einsehen müssen, dass Corbyn nicht wählbar ist und er und andere führende Labour-Politiker gehen müssen. Ich halte es für ein realistisches Szenario, dass wir im Frühjahr wieder Neuwahlen haben - mit einer anderen Labour-Führung.
Der Brexit wird wieder verschoben?
Damit rechne ich sowieso, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass es bis Ende Jänner zu einer Einigung kommt. Nach den Wahlen werden viel mehr Abgeordnete in Westminster sitzen, die weder Labour noch den Tories angehören. Bis zu hundert Sitze könnten an die Liberaldemokraten, die nordirische DUP, die schottische SNP, die Brexit Party und an Unabhängige gehen. Sie machen es schwieriger, im Parlament Mehrheiten zu finden.
Ist eine Koalition einer dieser Parteien mit den Tories denkbar?
Die SNP wird gut abschneiden, sich aber kaum auf eine Koalition mit Johnson einlassen. Die SNP hat ihre Anti-Brexit-Position sehr deutlich gemacht. Je mehr Abgeordnete sie stellt, desto schwerer wird es für die Tories. Auch für die proeuropäischen LibDems wäre es schwer, mit Johnson zu koalieren: Beim letzten Mal wurden sie völlig aufgerieben und haben viel an Vertrauen eingebüßt. Die DUP steht nach Johnsons Brexit-Deal nicht mehr zur Verfügung. Bekommt Johnson keine absolute Mehrheit, wird er aber keinesfalls zurücktreten, sondern es noch einmal versuchen. Johnson hält sich für einen modernen Winston Churchill.
Ist eine Labour-Regierung denkbar?
Möglich wäre eine Koalition zwischen Labour und der SNP. Das wäre zwar eine wackelige Angelegenheit, denn Corbyn und SNP-Chefin Nicola Sturgeon haben wenig gemeinsam. Sollte Corbyn ihr versprechen, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten zu dürfen, könnte es aber funktionieren.
Sie leben und arbeiten in Derry. Spielt die Debatte um Corbyn und Johnson eine Rolle für Wähler in Nordirland?
Im Wahlverhalten spielen sie keine Rolle. Labour steht nicht zur Wahl und die Tories werden kaum angekreuzt. In Nordirland geht es nicht um konservativ oder Labour, sondern um den Brexit. Man wählt grün (irisch-nationalistisch) oder orange (protestantisch-unionistisch), immer noch heißt es: Die gegen uns. Diese Wahl ist eine der wichtigsten überhaupt. Das nächste Parlament in London wird bestimmen, wie es beim Brexit weitergeht. Für uns Nordiren ist das ausschlaggebend, denn wir teilen eine Grenze mit der EU.
Der Brexit hat die politische Landschaft Nordirlands verändert. Was ändert sich nun nach den Wahlen?
Wir schicken 18 Abgeordnete nach Westminster. Normalerweise gibt es Wahlallianzen zwischen den unionistischen Parteien, damit die unionistischen Stimmen nicht gespalten werden. Diesmal, das ist neu und hat die Unionisten überrascht, haben auch die nationalistischen Parteien, die Social Democatic and Labour Party (SDLP) und Sinn Féin, eine proeuropäische Allianz gebildet.
Könnten so Wahlkreise, in denen Sinn Féin auf Kandidaten verzichtet, an die SDLP gehen, die ihre Sitze in Westminster im Gegensatz zu Sinn Féin einnimmt?
Ja. Auf diese Weise wird die DUP ihr Mandat in Südbelfast wohl an die SDLP verlieren. Nordbelfast wurde immer von den Unionisten gehalten, derzeit von DUP-Vizechef Nigel Dodds. Er wird nun von Sinn-Féin-Kandidaten John Finucane herausgefordert, der beim letzten Mal nur 2000 Stimmen hinter Dodds lag. Damals trat aber auch die SDLP an, die nationalistischen Stimmen verteilten sich. Diesmal verzichtet sie auf einen Kandidaten - und die Unionisten werden nervös. Nordbelfast ist ein Lackmustest für DUP und Sinn Féin.