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Ganze Stadtteile in der Hand der Aufständischen. | Jede Partei hat ihre eigenen Söldner. | Bagdad. Die Familie des 36-jährigen Schiiten Abbas Kadhim lebt schon seit drei Generationen im Bagdader Stadtteil Adhamiya. Die meisten seiner Nachbarn sind Sunniten. Bisher lebten diese zwei islamischen Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander. Seit vor ein paar Wochen die ersten Nachrichten mit den Todesdrohungen, gezeichnet mit Al-Sarkawi, morgens unter den Türen der Häuser durchgeschoben wurden, hat sich das Leben der Schiiten dramatisch geändert. Sie wurden aufgefordert, den Sunnitenstadtteil zu verlassen.
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Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht aus einem vorbeifahrenden Auto in die Wohnung eines Schiiten geschossen oder ein Kind entführt wird. Es gibt dutzende Tote und Verletzte. Inzwischen haben ein Drittel der Schiiten Adhamiya verlassen und sind über den Tigrisfluss in den überwiegend von Schiiten bewohnten Stadtteil Kadhamiya geflohen.
In einem internen UN-Bericht werden diese ethnischen Säuberungen und der Zug der Flüchtlinge in ganz Bagdad festgestellt. "Wenn das so weiter geht, ist das die erste Stufe eines Bürgerkrieges im Irak. Die Grenzen der ethisch homogenen Stadtviertel werden im nächsten Schritt leicht zu künftigen Schlachtfeldern", so die UN. Selbst Iraks Vizepräsident Adel Abdul Mahdi gibt zu, dass er die Pläne von Sarkawi kennt, das Land ethnisch zu trennen. "Ich bin sehr besorgt über diese Säuberungen und die Gefahr eines Bürgerkrieges".
Polizei ist hilflos
Fünf Stadtviertel von Bagdad werden von Widerstandskämpfern kontrolliert. Abbas Kadhim lässt seine Kinder seit acht Wochen nicht mehr in die Schule und kauft nur noch einmal die Woche ein. Ansonsten verlässt niemand mehr von seiner Familie das Haus. Viele Geschäfte sind inzwischen geschlossen. Wer es sich leisten kann, flieht vor dem Terror ins Ausland. "Das Risiko, von sunnitischen Milizen entführt oder erschossen zu werden, steigt täglich. Wir können hier nicht weiter leben. Wir müssen in den nächsten Tagen nach Kadhamiya ziehen, damit das Leben etwas sicherer wird," sagt Kadhim.
Polizei und Militär können den Irakern nicht helfen. Sie haben selbst durch die täglichen Attacken hohe Verluste und beschäftigen sich nur noch mit der eigenen Sicherung. Das größte Problem ist, dass die Sicherheitskräfte von Widerständlern unterwandert sind. Der Irak ist das Land der Milizen. Jede Partei und Organisation hat ihre eigenen Söldner. Sie hören auf denjenigen, der sie bezahlt. Oft stehen ganze Abteilungen der Polizei unter dem Kommando einer Miliz.
Kein Verlass auf die Medien
Wenn Abbas Kadhim sich informieren will, verlässt er sich nicht auf eine eine irakische Zeitung oder das lokale Fernsehen. "Wenn ich zuverlässige Informationen über mein Land haben möchte, sehe ich ausländische TV-Programme oder gehe in ein Internetkaffee", sagt Kadhim.
Es gibt inzwischen über 170 Zeitungen. Aber keine berichtet unabhängig. Am meisten regt sich Abbas Kadhim auf, wenn er aus den Medien erfährt, dass es in seinem Land aufwärts geht. Bei täglich zwei Stunden Strom, selten fließendem Wasser, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und enormer Arbeitslosigkeit schüttelt er über solche Berichte nur noch den Kopf. "Unter Saddam wussten wir, dass wir angelogen wurden, aber bei den Medien herrschen heute im Irak genau solche Wildwest-Zustände wie auf den Straßen in Bagdad. Für uns wird es immer schwieriger, die Wahrheit zu erfahren", sagt Kadhim.
Auf die Frage, was sie sich am meisten wünschen, geben alle Iraker nur eine Antwort: Endlich Sicherheit. Ohne Sicherheit kann sich ihr Land nicht entwickeln.
Wenn Jalal, der zwölfjährige Sohn von Abbas Kadhim in die Schule geht, hat er Anweisung, nur durch enge Nebenstraßen zu gehen. Das Risiko, dass dort Polizisten oder US-Militärs patrouillieren und deswegen eine Bombe gezündet wird, ist geringer. Die Bücher in der Realschule von Jalal stammen noch aus der Zeit von Saddam Hussein. Einzig sein übergroßes Foto auf der ersten Seite wurde heraus gerissen. Der Lehrplan und die Inhalte der Bücher entsprechen noch den Vorgaben der Baath-Partei. "Wir verstehen nicht, warum bei den vielen Milliarden Dollar, die für den angeblichen Aufbau fließen, die Bildung des neuen Iraks einfach vergessen wird", sagt Abbas Kadhim.
Die Straßen in Bagdad sind ab fünf Uhr wie leer gefegt. Vor den Häusern laufen Notstromaggregate und hinter den meisten Türen sitzen Männer mit Kalaschnikows. Ab zehn Uhr ist offiziell Ausgangssperre.
Abbas Kadhim ist Buchhalter und hat wie die meisten keine Arbeit. Der Hauptgrund dafür ist seine Parteilosigkeit. Alle Jobs in Behörden und Ministerien bekommen fast ausschließlich Parteigänger der Regierenden. "Die Unfähigkeit der Behörden und die Korruption ist die gleiche wie bei Saddam Hussein. Einer deckt die Schandtaten des anderen. Ich sehe auch nach der Wahl keine Hoffnung", sagt Kadhim.