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Droht uns 2014 ein "1914, Version 2.0"?

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Die meisten Europäer, die keine Deutschen sind, wollen auch keine werden. Das ist sehr verständlich, aber leider keine gute Nachricht für den Euro.


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"Sie sind auf hoher See in einem gewaltigen Sturm. Sie überleben, der Sturm flaut ab. Sie holen den Sonnenschirm heraus. Oder greifen zur Flasche. Ein paar Stunden später merken Sie, dass die Ruhe trügt. Der Sturm war nicht vorbei. Sie waren in seinem Auge." - So pessimistisch sieht nicht nur der renommierte Ökonom, Autor und "Financial Times"-Kolumnist Wolfgang Münchau die Lage der Eurozone im fünften Jahr der Weltwirtschaftskrise, so oder jedenfalls so ähnlich dürfte auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die Situation einschätzen. Mit für sie ungewöhnlich hoch dosierter Emotionalität warnte sie französischen Medienberichten zufolge beim letzten EU-Gipfel des Jahres 2013 vor einem Untergang des Euro und stellte dabei sogar dunkle Vergleiche mit dem Jahr 1914 an, als ein kollektives Versagen der politischen Klasse Europas in einer Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes mündete.

Ihr Pessimismus fußt vor allem auf dem anhaltenden und ziemlich massiven Widerstand der meisten EU-Staaten gegenüber ihren Vorstellungen davon, wie die Krise endgültig beigelegt werden kann und soll. Eingehegt in ein Netz von Verträgen mit der EU würden sie demnach - vereinfacht dargestellt - dazu bewegt, ihre Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger zu machen, was in vielen Fällen weitere höchst unbeliebte Reformen der Arbeitsmärkte, Liberalisierungen und Privatisierungen sowie harte Budgetdisziplin bedeutete. Also quasi "Gerhard-Schröder-Reformen" nach deutschem Vorbild für alle oder halt alle, die das brauchen - und wenn das nicht klappt, droht als Strafe eine "Troika für alle". Vieles deutet darauf hin, dass das ökonomisch durchaus Sinn hätte, auch wenn viele Ökonomen das anders sehen.

Politisch verkauft sich Merkels Plan freilich außerhalb Deutschlands so gut wie vergammelter Hering auf dem Hamburger Fischmarkt. Eine demokratische Mehrheit dafür wird nicht zu organisieren sein.

Der Grund ist ganz einfach: Italiener, Franzosen oder Spanier haben außerordentlich wenig Lust, ihre jeweilige Heimat so zu organisieren, wie das Merkel, und sei es mit Recht, für nötig hält. Die meisten Europäer haben einfach null Bock, Deutsche zu werden, und verjagen, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, jeden Politiker mit nassen Fetzen, der sie dazu zwingen will.

Das ist natürlich ihr gutes Recht - aber nur so lange, als sie auch bereit sind, allfällige Kosten und Risiken dieser Form nationaler Selbstbestimmung selbst zu tragen. Was aber angesichts der innigen Verflechtungen der Volkswirtschaften der Eurozone im 21. Jahrhundert dem Versuch gleichkommt, aus einem Omelett sechs Eier zu machen.

Ergebnis dieses unentschiedenen fundamentalen Konfliktes ist natürlich erheblicher Tempoverlust. Die Sanierung der Eurozone und vor allem die Errichtung von ökonomischen Bollwerken gegen einen neuerlichen Krisenausbruch kommt viel zu langsam und nur höchst halbherzig voran. Sollte Münchau recht haben, könnte das im schlimmeren Falle ziemlich unerquickliche Folgen haben. Auch wenn 2014 deshalb nicht gleich eine Art "1914, Version 2.0" werden muss.

ortner@wienerzeitung.at