Zum Hauptinhalt springen

Droht uns das Schicksal Japans?

Von Erich W. Streissler

Wirtschaft

Die Rolle Chinas für Weltwirtschaft. | Reich der Mitte vom Dollarraum weiterhin ausgebeutet. | Die Position der USA in der globalen Wirtschaft hat sich verschoben. In den letzten Jahren verschlangen die USA mindestens 60 Prozent, eher schon zwei Drittel bis drei Viertel aller Sparüberschüsse über die Investitionen des Restes der Welt. Historisch einmalig ist, dass das (bis vor kurzem) reichste Land der Welt ein Kapitalnehmerland geworden ist: Reiche Länder waren immer Kapitalgeberländer, wie England vor 1914 und die USA in der Zwischenkriegszeit und in der Nachkriegszeit bis etwa 1960. Die Kapitalnehmerrolle der USA ist dennoch nicht neu: Sie begann 1982, war während des ersten Irak-Krieges 1991 kurz vorüber und war am Ende der Präsidentschaft Clintons sehr klein geworden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Doch ab 2001 explodierte unter George W. Bush die US-Kapitaleinfuhr, erreichte ein Leistungsbilanzdefizit von etwa 6,5 Prozent des Sozialprodukts und ging dann nur leicht auf jetzt 4,7 Prozent zurück. Über 5 Prozent, so hieß es, könne die jährliche internationale Zusatzverschuldung ohne Zusammenbruch der Finanzen nicht hinausgehen. Die USA schafften mehr. Wie das?

In den späten 1980er Jahren finanzierten je zur Hälfte die hochgradig sparenden Länder Japan und Deutschland die amerikanische Kapitaleinfuhr. Beide sind immer noch wichtig als internationale Kapitalgeber. Neuerdings erreicht Deutschland wiederum 6 Prozent des Sozialprodukts als Leistungsbilanzüberschuss, der zum guten Teil in die USA geht. Auch Österreich hat einen Überschuss von 3 Prozent, der jedoch vor allem nach Osteuropa fließt.

China überholt Japan

Seit 2000 ist es aber insbesondere China, das Japan als Kapitalgeber überholt hat und das nunmehr jedes Jahr ziemlich genau ein Drittel des außenwirtschaftlichen Defizits der USA finanziert. China hat inzwischen 1,8 Billionen Dollar in internationalen Finanzveranlagungen akkumuliert, wesentlich mehr als ein Jahressozialprodukt der USA. Im vergangenen Jahr stieg dieser Fonds um etwa eine halbe Billion, wobei nur die Hälfte den US-Überkonsum finanzierte. Wie konnte das kommunistische China der Welt größter Finanzkapitalist werden?

Schon seit den 1990er Jahren zeigt China ein Wirtschaftswachstum von 10 Prozent oder mehr pro Jahr. Es ist in der Lage, etwa 50 Prozent seines Nettosozialprodukts als Konsum an die Bürger zu verteilen, der Rest wird gespart. Und von diesen gesparten 50 Prozent vermag es zwischen gut 45 oder (neuerdings) nur 40 Prozent zu investieren. Die restlichen 5 bis 10 Prozent werden der übrigen Welt geliehen, vor allem den USA.

Ähnlich leihen in vielleicht nicht ganz so starkem Maß das arme Indien, Brasilien und vor allem weitere Ölländer an das jeweilige Ausland, Saudiarabien etwa zu einem Viertel seiner jährlichen Wirtschaftsleistung. Der größte Teil von all dem wird in den USA zur Finanzierung des gewaltigen Leistungsbilanzdefizits verprasst.

Überschuss und Defizit

Denn, für die Welt berechnet, können die Ersparnisse nie größer als die Investitionen sein: Hat China einen Sparüberschuss, so muss der Rest der Welt ein Spardefizit haben.

Die USA sehen China hauptsächlich als Handelskonkurrenten, also als Quelle billiger Einfuhren, welche die heimische Produktion der USA wegkonkurrieren. Aber der internationale Güterverkehr ist ein genau gegenläufiger Posten zum Kapitalverkehr: Wenn ein Land - weil es so billig produziert - mehr ausführt als es einführt, so muss es gleichzeitig diesen Leistungsbilanzüberschuss der Welt leihen.

Damit die chinesischen Güter in den USA nicht zu konkurrenzfähig würden, zwangen die USA China seit 2006, gegen den Dollar aufzuwerten, im Vorjahr um volle 9 Prozent. Das machte freilich die chinesischen Produkte nicht weniger konkurrenzfähig: Ist das Wirtschaftswachstum pro Kopf 9 Prozent, so heißt das auch, dass die durchschnittliche Produktivitätssteigerung 9 Prozent beträgt. Das würde ohne Lohnsteigerungen dazu führen, dass die Güterpreise, in chinesischer Währung ausgedrückt, um 9 Prozent fallen bzw. bei 9 Prozent Aufwertung in Dollar ausgedrückte Preise also gerade gleich bleiben. (Bei Exportgütern ist die Produktivitätssteigerung obendrein immer überdurchschnittlich, so dass auch noch Lohnerhöhungen gezahlt werden können.)

Aber die laufende Aufwertung der chinesischen Währung gegen den Dollar bedeutet außerdem, dass die Dollar-Währungsreserven Chinas sich entwerten. Bei den geringeren Verzinsungen von US-Schuldtiteln gegenüber denen in China heißt das, dass China mit seinem internationalen Finanzschatz, soweit in Dollar veranlagt, jährlich einen Verlust von etwa 10 Prozent einfährt. Minus zehn Prozent als Ertrag auf chinesisches Kapital ist nicht gerade berauschend.

Aber wie soll China seine Finanzüberschüsse anlegen? Es hat sicherlich Gold gekauft. Aber Gold hat jüngst um etwa ein Viertel an Wert verloren - und das ausgedrückt in dem selbst gegen die chinesische Währung abwertenden US-Dollar. Gleiches gilt für Erdöl, auch sicherlich ein Investitionsgut für Chinas Staatsschatz. Hier ist die jüngste Abwertung selbst gegenüber dem abwertenden Dollar volle 50 Prozent, von 140 Dollar auf 70 Dollar.

Anlage in Euro?

Schön für China wäre eine Veranlagung in Euro: zumindest vor der jüngsten Euro-Abwertung, die wohl nur eine kurzfristige, den gegenwärtigen Notverkäufen von US-Auslandsveranlagungen entsprechende sein wird, wertete der Euro bis zum Sommer um etwa 15 Prozent gegenüber dem Dollar auf, sodass der Euro eine gewinnbringende Veranlagung wäre. Aber eine erhebliche Euro-Veranlagung ist für China keineswegs leicht zu vollziehen. Denn der Euro-Raum bilanziert gegenüber dem Ausland etwa ausgeglichen, wenn nicht im Überschuss, sodass es für einen großen Finanzmarkt wie den chinesischen schwer wäre, erhebliche Euroveranlagungen durchzuführen.

Mit einem Wort: Selbst der finanziell angeschlagene "kapitalistische" Dollarraum ist noch immer gut in der Lage, Ausbeutung des kommunistischen China zu betreiben. Und dem Reich der Mitte bleibt vorläufig nichts anderes übrig, als sich von den Amerikanern und anderen ausbeuten zu lassen.

Wie lange noch? Vorläufig haben sowohl China als auch Indien noch nicht die staatlichen Institutionen, um stärker in ihre Infrastruktur zu investieren. Andererseits schlägt sich die Finanzmarktkrise auch in einer leichten Minderung ihrer wirtschaftlichen Wachstumsraten nieder.

Schrumpft das Wirtschaftswachstum und erhöhen sich die Löhne in China und Indien wie bisher - und bleibt zudem die Investitionstätigkeit dieser Länder stark -, dann wäre ihr Sparüberschuss bald wie vom Winde verweht. Und auch die Ölländer würden nach einiger Zeit erfahrungsgemäß eigene Investitionsmöglichkeiten finden.

Andererseits ist die chinesische Finanzakkumulation, wie man jetzt sieht, doch nicht so verlustbringend, wie es auf den ersten Blick scheint. Jetzt, im beginnenden Crash, kaufen die Chinesen links und rechts entwertete US-Vermögenstitel auf.

Und warum haben die USA die Hausfinanzierungsgesellschaften Fannie Mae und Freddie Mac nicht in Konkurs gehen lassen? Weil genau bei deren Finanzierung die Chinesen und andere internationale Kapitalgeber bereits kräftig eingestiegen sind.

Wenn aber die USA keine Kapitalgeber für die Ermöglichung ihres Leistungsbilanzdefizits mehr finden, dann muss der Dollar wirklich drastisch abwerten. Das würde die US-Exporte stark verbilligen und die Importe so sehr verteuern, dass die USA sich überhaupt nur mehr die lebenswichtigsten Einfuhren (einschließlich gewisser unumgänglicher Rohstoffe) leisten könnten.

Depressions-Gefahr

Die USA würden damit ein enormer Konkurrent für andere Länder werden. Gleichzeitig müssten die US-Ersparnisse steigen, um die Leistungsbilanz auszugleichen. Wenn aber eine Steigerung des Sparens in einer beginnenden Rezession eintritt, also die Güternachfrage zurückgeht, so führt das erst recht in eine tiefe Depression. Es müsste das Gegenteil der erhofften Effekte der gegenwärtigen Konjunkturpakete eintreten, welche die internationale Defizitposition der USA nur verschlechtern. Eine Depression in den USA würde aber auch zu einer Depression in Europa und erst recht zu depressiven Tendenzen in den asiatischen und anderen Kreditorenländern der USA führen.

Und wie die Erfahrungen der 1930er Jahre zeigen, haben die größeren Depressionsverluste die Kapitalgeberländer zu erleiden: damals die USA, diesmal Europa und vor allem auch Ostasien.

Der traurige Ausblick

Wie geht es in Zukunft weiter? Zur Beantwortung dieser Frage sieht man sich am besten an, was in der Geschichte mit großer Regelmäßigkeit passiert ist. Die Unterschiede von Mal zu Mal sind erstaunlich gering.

Im Schnitt lernen Menschen erstaunlich wenig. Schon 1720 ist der durchaus finanzkundige und reiche große Mathematiker und Physiker Isaac Newton höchst modern durch ganz typische Aktienspekulationen fast bankrott gegangen.

Wann kommt der nächste Wirtschaftsaufschwung? Zur Beantwortung gerade dieser Frage habe ich auf Ideen des ersten großen Innovationstheoretikers Karl Marx in der Fassung der Überlegungen von Schumpeter zurückgegriffen: Kleine, strohfeuerhafte Zwischenaufschwünge kommen immer wieder. Einen kräftigen Boom hingegen gibt es im Schnitt nur alle 50 Jahre. Der nächste deutliche Aufschwung wäre also nach Schumpeter erst etwa für 2045 zu erhoffen. Wer ihn viel früher erwartet, dem ist das Wort von Bruno Kreisky entgegenzuhalten: "Lernen Sie Geschichte!"

Nach 1929 haben die führenden Länder wirtschaftspolitisch nichts gegen den Abschwung getan und diesen damit bis zu tiefster Depression verstärkt.

Umgekehrt operieren sie diesmal offensichtlich viel zu aktionistisch. Dann aber ist die Konsequenz eine zähe langjährige Wirtschaftsstagnation, unterbrochen von vielen Perioden einer leichten Schrumpfung des Sozialprodukts. "The Economist" vom 18. Oktober 2008 erinnerte uns: Das 20. Jahrhundert kannte Aktienaufschwünge als Symptome von Wirtschaftsaufschwüngen nur während 42 Jahren, hingegen Stagnationsphasen, unterbrochen durch Abschwünge, während voller 58 Jahre. Der Boom der Jahre 1982 bis 2000 ist jetzt vorüber.

Schon seit langem betone ich, dass uns allen das japanische Schicksal bevorsteht: Dort herrscht nach vollen 18 Jahren eine noch immer nicht wirklich beendete Stagnation mit dazwischenliegenden Phasen des Rückgangs des Sozialprodukts. Den höchsten Aktienkurs, am Nikkei gemessen, gab es am letzten Handelstag des Jahres 1989, den tiefsten etwa bei - durchschnittlich - einem Sechstel des damaligen Wertes von 38.500. Heute, fast 19 Jahre danach, sind die Kurse bei nur etwa einem Viertel dieses Wertes.

Japans Krise

Genau wie jetzt in den USA, England oder Spanien war das Ende des japanischen Booms ein Wohnhausboom mit hoch überschuldeten Hauseigentümern. Heute liegen die Durchschnittswerte der Wohnhäuser in vielen japanischen Städten auf dem Niveau von 40 Prozent der Ursprungswerte, kaum verkäufliche Bürohäuser oft noch darunter.

Genau wie jetzt in den USA und allenthalben in Europa hat Japan versucht, durch staatliche Defizitpolitik aus der Krise zu kommen: Die Budgetdefizite betrugen gewaltige 7 und 8 Prozent der Sozialprodukte. Sie waren wenig wirksam, so wie sie bei uns wenig wirksam sein werden. Der Endeffekt ist nur die höchste Staatsverschuldung der entwickelten Welt von 180 Prozent des jährlichen Sozialprodukts.

Gegenwärtig haben die USA bereits ein gewaltiges "normales" Budgetdefizit von 4 Prozent des Sozialprodukts. Das Notpaket zur Bankenstützung für 700 Mrd. Dollar fügt 6 Prozent hinzu. Und Notenbankpräsident Ben Bernanke ruft, wie nach seinen wissenschaftlichen Publikationen nicht anders zu erwarten, nach einem weiteren Konjunkturpaket - ein in den USA wie in Europa gerade von der wirtschaftlichen Oberschicht bejubelter Etatismus. Weiß diese nicht, dass Staatsschulden über kurz oder lang durch erhöhte Steuern gegenfinanziert werden müssen, Steuern, die gerade von den noch immer Wohlhabenderen zu zahlen sind?

Ich habe die zu erwartende Finanzkrise seit sechs Jahren vorausgesagt; Gunter Tichy betont die Notwendigkeit eines Abbaus der Bankenbeschäftigung seit etwa 15 Jahren.

Nun tritt beides ein: Der weltweite Stellenabbau in der Finanzbranche, und zwar bereits jetzt hunderttausende und bald Millionen. Und eine Wirtschaftsdepression reduziert die Beschäftigungsmöglichkeiten besser Verdienender. Das ist auch das politische Problem von Depressionen und der Grund des hysterischen Rufens nach dem Staat.

Sinkende Einkommen

In Europa werden in den reicheren Ländern infolge der bereits erfolgten Vergrößerung der EU und der 2011 unvermeidlichen Öffnung der Arbeitsmärkte auch die Löhne der heimischen Arbeiter fallen müssen - unterboten durch den Andrang von Arbeitern aus dem europäischen Osten.

Denn sonst drohen in noch stärkerem Maß Betriebsverlagerungen in Billiglohnländer. Aber auch Unternehmereinkommen werden zunehmend unter Druck geraten.

Politische Prognosen sind noch schwieriger als wirtschaftliche. Historisch typisch ist jedoch in Demokratien eine Verlagerung des Wählerspektrums nach rechts. Gerade infolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre kam Hitler an die Macht, ebenso wie andere Diktatoren.

Hoffen wir, dass es diesmal nicht ganz so drastisch wird. Für Österreich würde ich trotzdem wetten, dass in vier oder fünf Jahren, nach einem zwischenzeitlichen, unbefriedigenden Weiterwurschteln einer sogenannten großen Koalition, der Bundeskanzler Strache heißen wird, gewählt mit solider Mehrheit, gerade der Jugend.

Was ist mein Ratschlag für, wie Kreisky sagte, die Menschen in Österreich? "Wachet und betet" wäre keine schlechte Devise. Oder konfuzianisch: Dumme klagen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten.

Erich W. Streissler, geboren 1933, ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte an der Uni Wien.