US-Außenministerin Condoleezza Rice hat recht. Natürlich bringen zehn US-Abwehrraketen in Polen nicht das System der nuklearen Abschreckung zum Einsturz. Was aber die USA nicht erkennen - oder nicht wahrhaben wollen - ist, dass die Russen in dem Raketenschild von zweifelhafter Wirksamkeit nur den Teil eines Gesamtkonzeptes sehen, das sie ihres Einflusses beraubt.
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Nicht zufällig hat Präsident Wladimir Putin nun den KSE-Vertrag ins Spiel gebracht, der die konventionellen Streitkräfte in Europa beschränken sollte. Dieser wurde 1990 zwischen Warschauer Pakt und der Nato abgeschlossen. Die baltischen Staaten, damals noch Teil der Sowjetunion und heute Nato-Mitglieder, haben den 1999 adaptierten Vertrag nie unterschrieben. "Russland ist das einzige Land, das den Vertrag umsetzt", erläuterte der russische Außenminister Sergej Lawrow.
Die Nato hält dem entgegen, dass Moskau sich nicht an seine Verpflichtungen hält. Ein Teil der russischen Armee hat zwar Georgien verlassen, in der Unruheprovinz Süd-Ossetien, die den Anschluss an Russland anstrebt, stehen aber nach wie vor russische Soldaten, die sich als Schutztruppe verstehen. Auch sonst werden die vereinbarten Waffen-Obergrenzen an der Südflanke Russlands überschritten, weil sich Putins Reich dort am stärksten von Erosion bedroht fühlt - Beispiel Tschetschenien.
Moskau beruft sich darauf, dass es keinen formalen oder juristischen Zusammenhang zwischen den Abzugsverpflichtungen und dem KSE-Vertrag gibt. Es handelt sich um eine politische Verknüpfung. Und die werde nur einseitig betrachtet, argumentieren Putin und Lawrow, die hier, wie auch bei anderen Konfliktfeldern wie dem Iran, den Unilateralismus der USA am Werk sehen.
Zudem "schleiche sich" das westliche Verteidigungsbündnis durch die Nato-Osterweiterung immer näher an die Grenzen Russlands heran, meint Lawrow. Diese Klage ist ebensowenig neu wie die russische Sorge, die Verträge zur Rüstungsbegrenzung würden systematisch unterlaufen. Ist es nur der Raketenschild, der das Fass nun zum Überlaufen bringt?
Putin selbst gab in seiner Rede einen anderen Zusammenhang zu erkennen. Er warf dem Ausland vor, sich mit "pseudo-demokratischer Rhetorik" in die inneren Angelegenheiten seines Landes einzumischen. Dass dabei auch den Europäern, die die Unterdrückung der Opposition und Menschenrechtsverletzungen in Russland anprangern, ein schärferer Wind ins Gesicht bläst, zeigt unter anderem die Vetodrohung gegen die Unabhängigkeit Kosovos.
Im Dezember stehen Parlamentswahlen, im März 2008 die Entscheidung über den Nachfolger Putins an. Nationalismus dient da als probates Mittel, dem Land nach der Schmach des verlorenen Kalten Krieges neues Selbstbewusstsein einzuimpfen. Wie im Iran weiß man auch in Russland, dass die Bedrohung von außen von Problemen ablenkt und dem inneren Zusammenhalt dient. Seite 7