Die Türkei warnt Europa vor einem Platzen des Flüchtlingsdeals, doch mögliche Konsequenzen sind völlig offen.
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Istanbul/Brüssel. Einmal gilt sie als wertlos, ein anderes Mal gibt sie Anlass zu Drohungen. Die Resolution des Europa-Parlaments zu einem Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara löst beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan unterschiedliche Reaktionen aus. Einen Tag, bevor die EU-Abgeordneten dazu aufriefen, die Gespräche auszusetzen, befand Erdogan, dass dies keine Bedeutung hätte. Einen Tag nach dem Beschluss, am Freitag, kündigte er Vergeltungsmaßnahmen an. Er werde als Antwort auf die Resolution das Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe in seinem Land unterzeichnen, sagte der Präsident bei einer Konferenz in Istanbul. Zudem drohte er zum wiederholten Mal mit einem Platzen des Flüchtlingsdeals mit den Europäer. Wenn die EU weiter gehe, "werden wir die Grenzübergänge für Flüchtlinge öffnen". Er warf der Union vor, ihre Versprechen nicht zu halten. Dabei sei sie es gewesen, die sein Land um Unterstützung gebeten habe.
Tatsächlich ist das Abkommen mit Ankara zu einem Schwerpunkt in den Bemühungen der Europäer zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geworden. Eine Einigung auf eine verpflichtende Verteilungsquote für die Asylwerber innerhalb der EU blieb nämlich aus, und auch die freiwilligen Programme zur Umsiedlung der Schutzsuchenden von Griechenland und Italien aus gingen und gehen nur schleppend voran. Auf Betreiben vor allem Deutschlands kam daher der Deal mit der Türkei zustande. Diese sollte den Europäern dabei helfen, die Außengrenzen zu schützen und die Menschen von der Überfahrt auf die griechischen Inseln abhalten. Ebenso wurde vereinbart, Migranten ohne Anspruch auf Asyl in der EU in die Türkei zurückzuschicken. Für jeden abgewiesenen syrischen Flüchtling aber sollte einer aus den Lagern in der Türkei in die EU umgesiedelt werden.
In den türkischen Flüchtlingscamps befindet sich jedoch nur ein Bruchteil der Menschen, die aus dem Kriegsgebiet geflohen sind. Rund drei Millionen Syrer sind geflüchtet, und die meisten versuchen, in größeren Städten Arbeit und private Unterkunft zu finden. Sie erhalten keine staatliche Hilfe. Laut NGOs besuchen nur 15 Prozent der Kinder eine Schule, tausende von ihnen arbeiten in Textilfabriken für einen Tageslohn von ein paar Euro.
Druckmittel Visafreiheit
Diese Menschen wird die Finanzhilfe der EU kaum erreichen. Denn Mittel für Flüchtlingsprojekte sind ebenfalls Teil des Abkommens mit der Türkei. Bis 2018 will die Union drei Milliarden Euro zur Verfügung stellen; mehrere hundert Millionen Euro sind bisher geflossen. Das Geld wird vor allem für die Versorgung der Menschen in den Flüchtlingslagern eingesetzt.
Doch auch zu weiteren Zugeständnissen war die EU mit der Vereinbarung bereit. Die stockenden Beitrittsverhandlungen mit Ankara sollten neuen Schwung erhalten, und der Prozess der Visaliberalisierung sollte beschleunigt werden. Und an der Reisefreiheit für ihre Landsleute ist die türkische Regierung besonders interessiert - auch wenn sie eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür nicht erfüllen möchte. Eine Änderung der Anti-Terror-Gesetze, die sogar gegen Oppositionelle, Journalisten und Regierungskritiker gerichtet werden können, lehnt sie ab.
Die Visafreiheit ist wohl auch das größere Druckmittel, das der EU zur Verfügung steht. Und da hat das EU-Parlament Mitspracherecht. Die Resolution zur Aussetzung der Beitrittsverhandlungen hingegen ist nicht bindend. Unter den Mitgliedstaaten findet sich keine Mehrheit für eine Suspendierung der Gespräche; lediglich die österreichische Regierung sprach sich offen dafür aus.
In Berlin wiederum wird die Notwendigkeit des Dialogs weiterhin betont. Das Flüchtlingsabkommen wird ebenso verteidigt; die Warnungen aus der Türkei werden gelassen hingenommen. Es sei davon auszugehen, dass die Vereinbarung auch im türkischen Interesse sei, kommentierte eine Regierungssprecherin. Ähnlich äußerte sich die EU-Kommission.
Es ist sowieso offen, ob Erdogan seiner Drohung Taten folgen lassen würde. Und welche Konsequenzen dies hätte, ist ebenfalls unklar. Die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Griechenland gelangen, ist zwar in den vergangenen Monaten deutlich gesunken. Doch hat diese Tendenz eingesetzt, nachdem Österreich mit einigen anderen Ländern die Balkan-Route geschlossen hat.
Ausschreitungen in Lagern
Dennoch ist die Lage in europäischen Flüchtlingslagern prekär, besonders in Griechenland, wo tausende Menschen ausharren. Es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Heftige Proteste auf der Insel Lesbos löste zuletzt der Tod einer Irakerin und ihres Enkels nach der Explosion einer Gasflasche aus. Im bulgarischen Lager Harmanli wiederum sorgte ein Ausgangsverbot für Unmut. Die großteils afghanischen Flüchtlinge lieferten sich stundenlange Gefechte mit Polizisten.