)
EU-Staats- und Regierungschefs wollen Reformdebatte ohne Großbritannien führen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Brüssel. Kann aus einem "Auf Wiedersehen" so schnell ein "Willkommen" werden? Nicht einmal eine Woche ist es her, dass die Briten mit Mehrheit für einen Austritt ihres Landes aus der EU, den Brexit, gestimmt haben. Der Aufruhr am Tag danach war groß, und schon in den Monaten zuvor hatte das näher rückende Referendum für Unruhe gesorgt. Das reguläre Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs, das sich zeitlich mit dem Votum auf der Insel überschnitten hätte, wurde verschoben. So kamen die Spitzenpolitiker erst gestern, Dienstag, in Brüssel zusammen - und werden am heutigen Mittwoch schon ohne den britischen Premier David Cameron weiter beraten.
Eine rasche Trennung zwischen dem Königreich und dem Kontinent wird es dennoch nicht geben. Denn London zögert den Antrag auf Austritt aus der Union hinaus. Und wenn es das Ansuchen gar nicht stellt? Auf diese Journalisten-Frage antwortete die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite mit einem leichten Lächeln - und einem "Willkommen". "Dann sagen wir: Willkommen zurück."
Generell lautet die Devise aber: Abwarten. EU-Ratspräsident Donald Tusk stellte klar, dass es an der britischen Regierung liege, den Austrittsprozess einzuleiten: "Das ist die einzige legale Möglichkeit, die wir haben." Dass es bereits vorher Gespräche mit London geben könnte, schloss wiederum EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aus. Gleichzeitig warnte er vor Verzögerungen, die die Unsicherheit noch vertiefen könnten. Ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie machte aber deutlich, dass die Briten nur bedingt auf ein Entgegenkommen der anderen 27 EU-Staaten zählen können. "Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden", sagte sie in einer Regierungserklärung in Berlin vor dem Treffen mit ihren Amtskollegen in Brüssel. Cameron wiederum brachte seine Hoffnung auf einen "konstruktiven Prozess mit einem konstruktiven Ergebnis" zum Ausdruck.
Hitzige Parlamentssitzung
Dieser Prozess solle jedenfalls rasch beginnen, befand unterdessen das EU-Parlament, das sich einige hundert Meter vom Tagungsort der Staats- und Regierungschefs entfernt zu einer Sondersitzung versammelte. Die Debatte geriet zu einer Abrechnung mit den Betreibern des britischen EU-Austritts verpackt in die Botschaft, jetzt schnell Klarheit zu schaffen. Nur keine Anreize schaffen für allfällige Nachahmer.
Juncker, ebenfalls zur Diskussion eingeladen, wiederholte, an die Briten gewandt: "Sagen Sie, was Sache ist, und zwar so schnell wie möglich." Für die Union bemühte er sich um Zweckoptimismus: "Wir fliegen noch, obwohl uns die britischen Wähler einige Flügel abgeschnitten haben."
Mit direkten Angriffen ging es dann weiter. Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Christdemokraten, attackierte den Vorsitzenden der britischen "Unabhängigkeitspartei" Ukip, Nigel Farage, und bezichtigte - wie später auch Liberalen-Chef Guy Verhofstadt - den Werber für einen EU-Austritt der blanken Lüge. Aber auch die nationale Politik der EU-Staaten wollte Weber in die Pflicht genommen wissen. "Hört auf mit dem populistischen Brüssel-Bashing und übernehmt eure Verantwortung an den europäischen Angelegenheiten", erklärte der Deutsche.
Den Fokus auf die Zukunft richtete wiederum Gianni Pittella, Vorsitzender der Sozialdemokraten im EU-Parlament: "Wir brauchen ein Tripple-A auch für soziale Fragen, nicht nur bei den Finanzmärkten."
Dann war Nigel Farage selbst am Wort, der seit der Vorwoche das Hassobjekt der EU-Befürworter in Brüssel und Großbritannien ist. Tatsächlich musste Parlamentspräsident Martin Schulz die empörten Abgeordneten zur Ruhe mahnen. Und der Brite genoss sichtlich die Ablehnung, die ihm entgegenschlug: "Als ich vor 17 Jahren angekündigt habe, dass ich für einen Austritt Großbritanniens kämpfen werde, haben Sie gelacht", sagte er zu seinen Kollegen. "Jetzt lachen Sie nicht mehr. Ist das nicht lustig?" In der Sache selbst forderte Farage eine "erwachsene und nüchterne Art, den Austritt zu verhandeln". Zumal, wie er beteuerte, Großbritannien nicht das letzte Land sei, das die EU verlassen werde.
Das war das Stichwort für Marine Le Pen, Vorsitzende des radikal rechten Front National. Sie bejubelte den Brexit als "wichtigstes politisches Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer 1989", einen "Sieg der Liebe zum Volk" und einen "Beweis, dass die Integrationsprozesse der EU sehr wohl rückgängig gemacht werden können". Die erklärte Anhängerin eines EU-Austritts Frankreichs, zeigte sich überzeugt, ihr Land selbst "auf diesen Weg der Freiheit" führen zu können.
Trockener Kommentar Junckers: "Wir dürfen die Nationen nicht den Nationalisten überlassen."
Ringen um die Zukunft der EU
Diesen Satz könnten die meisten Spitzenvertreter der Mitgliedstaaten, die einander im Ratsgebäude trafen, wohl auch unterschreiben. Doch die Meinungen, wie die Zukunft Europas gestaltet werden soll, gingen auseinander. Die Stärke der EU wollte Frankreichs Präsident François Hollande betont wissen: "Europa wird sich nicht aufhalten lassen." Für eine "bürgernähere" Gemeinschaft plädierte der schwedische Premier Stefan Löfven. "Wir müssen Jobs und soziale Sicherheit schaffen. Und das kann ohne eine stärkere Regulierung in Brüssel erfolgen." Für den österreichischen Bundeskanzler Christian Kern stellten sich bei seinem ersten EU-Gipfel ähnliche Fragen: Wie seien das Wohlfahrts- und das Sicherheitsversprechen zu erfüllen? Sein luxemburgischer Amtskollege Xavier Bettel merkte an: "Wir haben vergessen, wie gut die EU ist."
An Mahnungen, diese EU zusammenzuhalten, mangelte es dann auch nicht. Doch dass die Debatte darüber, wie sehr sich die Union vertiefen solle und dürfe, erneut zu Zwistigkeiten führen wird, zeichnet sich bereits ab. Den Beginn der Diskussion über "die Zukunft der Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten" hat Tusk für den heutigen Mittwoch angekündigt.
Einen losen Zeitplan für das weitere Vorgehen entwarf Merkel. Bis kommenden März sollten die 27 Länder beschließen, wie sie die EU effektiver machen wollen. Sie sollten sich dabei nicht auf einen Streit über "mehr Europa" oder "weniger Europa" beschränken. Das würde nämlich nur die Fliehkräfte in der Union stärken.
Gerade Merkel zieht derzeit viel Aufmerksamkeit auf sich. Denn in Berlin sehen viele den Ort, aus dem der Kitt für die Gemeinschaft kommen soll. Bei den Finanzverhandlungen mit Griechenland, in der Flüchtlingskrise, bei den Debatten um Grenzkontrollen innerhalb der EU spielte Deutschland eine wichtige Rolle. Da es aber an der "deutschen Dominanz" auch heftige Kritik gab, muss Merkel den Eindruck vermeiden, bestimmten EU-Partnern den Vorzug vor anderen zu geben. Diese Befürchtung hegen vor allem einige osteuropäische Mitglieder.
Zumindest die Slowakei hat allerdings nun die Möglichkeit, sich noch aktiver in die Debatten einzubringen. Sie übernimmt am Freitag den EU-Vorsitz. Der nächste Sondergipfel könnte daher schon in Bratislava stattfinden. Tusk hat ein solches außerordentliches Treffen für den September angeregt.