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Gegner missbrauchen Minderjährige als Soldaten und lebende Schutzschilde.
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Damaskus/Wien. 70.000 Tote, eine Million Flüchtlinge, schwere Kämpfe im ganzen Land - das Ende des Elends ist nicht abzusehen. Zwei Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs am 15. März 2011 werden die langfristigen Folgen des Konflikts immer klarer. Syriens Kinder sind alle für ihr Leben gezeichnet, vermerkt ein Bericht der Vereinten Nationen trocken, die internationale Gemeinschaft muss tatenlos zusehen, wie eine verlorene Generation heranwächst. "Die Vergangenheit und Zukunft von zwei Millionen syrischen Kindern löst sich vor deren Augen auf", versucht Unicef-Direktor Anthony Lake in Worte zu fassen, was an Unfassbarem täglich geschieht. Zehntausende Minderjährige haben aus nächster Nähe mitansehen müssen, wie Angehörige umgebracht werden, die Zahl der Vollwaisen steigt täglich, zahllose Kinder sind vergewaltigt worden - Psychologen sprechen von 100.000-fachem Seelenmord, der in dem Land zur täglichen Praxis geworden ist.
Kinder sind in Syrien nicht nur Zeugen eines blutigen Konflikts, sie werden von Erwachsenen zu Teilnehmern des Krieges gemacht, erleiden Haft, Folter und werden gezwungen, ihre Angehörigen zu denunzieren. Die dann ihrerseits gefasst und getötet werden. Ein 15-jähriger Syrer erzählt, dass er in seiner ehemaligen Schule zehn Tage ohne Nahrungsmittel eingeschlossen und an den Handgelenken aufgehängt und geschlagen worden wäre. "Einer nach dem anderen drückten sie ihre Zigaretten auf mir aus", so der Jugendliche, der diese Erfahrungen mit zahllosen anderen teilt. Ein 14-Jähriger berichtet, er habe nach einem Massaker "überall Körperteile gefunden", die von Hunden gefressen worden wären. Ein 16-Jähriger berichtet von einem Sechsjährigen, der "schwerer als jeder andere gefoltert wurde" und nach drei Tagen gestorben sei. Kinder sind im Kampf gefallen oder zeitlebens verkrüppelt. Minderjährige werden in Syrien als Kämpfer, Boten, Wachposten, Informanten und lebende Schutzschilde missbraucht. Die verschiedenen Rebellen-Gruppen sind ebenso involviert wie die syrische Armee.
Alle sind gezeichnet
"Save the Children", die größte unabhängige Kinderrechtsorganisation der Welt, hat begonnen, Einzelfälle zu untersuchen und in einen größeren Kontext zu stellen. Das ganze Ausmaß der Tragödie nimmt Konturen an. Türkische Forscher haben beispielsweise herausgefunden, dass drei von vier syrischen Kindern Angehörige oder enge Freunde verloren haben. Eines von drei Kindern ist von Soldaten geschlagen und getreten worden oder direkt unter Beschuss geraten. Der Bericht des türkischen Forscherteams bezweifelt, dass es in Syrien überhaupt noch ein einziges Kind gibt, das nicht gezeichnet ist.
In vielen Regionen gibt es keine Gesundheitsversorgung, die Spitäler sind zerstört, Ärzte und Krankenschwestern haben sich abgesetzt. Laut "Ärzte ohne Grenzen" greift das Regime Krankenhäuser und Hilfseinrichtungen gezielt an, medizinisches Personal wird verfolgt.
Wegen der dauernden Bombardierungen haben viele Familien ihre Wohnungen verlassen, sie leben in überfüllten Quartieren oder im Freien. Die triste Lage wird durch den kalten Winter verschärft, die Temperaturen fallen unter null Grad, es gibt kein Heizöl und keinen Strom. Lebensmittel werden knapp, die Preise sind so hoch, dass Ärmere ihre Grundversorgung nicht mehr sicherstellen können. 2000 Schulen in Syrien sind zerstört oder dienen als provisorische Unterkünfte für Flüchtlinge. In manchen Regionen geht kaum noch ein Kind in die Schule.
Tödliches Patt
Der einzige Ausweg wäre ein schnelles Ende des Krieges, doch gerade das ist nicht in Sicht. Den Rebellen gelingt der entscheidende Durchbruch nicht, manche Beobachter sind der Ansicht, dass die Kämpfe noch Jahre dauern könnten. Das Regime von Bashar al-Assad wird weiterhin vom Iran, Russland und der Hisbollah unterstützt und kann sich in den Hochburgen halten. Vor allem um die Hauptstadt Damaskus wird erbittert gekämpft, die Rebellen haben am Mittwoch in der Nähe der Hauptstadt ihre Frontlinien verstärkt, es finden dort heftige Kämpfe statt, in die auch der Assad-Bruder Maher als Kommandeur verwickelt ist.
Die syrische Armee setzt schwere Artillerie und Raketen in großer Zahl ein; getötet werden großteils keine Rebellen, sondern Zivilisten. Am Mittwoch wurde bekannt, dass es erstmals einen Mitarbeiter der EU erwischt hat - er wurde bei einem Raketengriff der Armee getötet.
Das Regime hat seinerseits begonnen, hunderte Reservisten und Wehrpflichtige einzuziehen. Von Beobachtern wird das als Zeichen der Schwäche interpretiert. Russland glaubt nicht mehr an einen Sieg des Verbündeten Assad und bringt seine Bürger aus der Gefahrenzone. Die US-Geheimdienste stellen eine "beschleunigte Erosion" der Macht Assads fest - der Prozess könnte leicht in einem Einsatz von chemischen Waffen gipfeln, heißt es in Washington.
Die Obama-Administration hat sich bis jetzt allerdings nicht dazu durchgerungen, den syrischen Rebellen Waffen zu schicken, in der Europäischen Union steht vor allem Deutschland auf der Bremse. Premier David Cameron lässt jetzt allerdings aufhorchen - er hat einen möglichen britischen Alleingang und damit den Bruch des EU-Waffenembargos angekündigt. Die Briten wollen den Rebellen Waffen schicken - ob sie es wirklich tun, ist offen.