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"Du kannst alles, was du willst"

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Raffaels berühmtes, 7,70 m breites Fresko "Die Schule von Athen" (1510 bis 1511 im Vatikan für Papst Julius II. verfertigt), das im Sinne der Renaissance das antike Denken als Ursprung der europäischen Kultur, ihrer Philosophie und Wissenschaften verherrlicht.
© gemeinfrei

Die Philosophie des italienischen Humanismus gehört zu den Grundlagen des modernen Denkens. Denker wie Petrarca oder Pico della Mirandola entwickelten eine neue Vorstellung von der Würde des Menschen.


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"In der Renaissance erhebt sich in Italien mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches", schrieb der Historiker Jacob Burckhardt in seinem Standardwerk "Die Kultur der Renaissance in Italien".

Mit dieser Hinwendung zum Individuellen vollzog sich der Epochenbruch zum "dunklen Mittelalter". Im Mittelpunkt standen nicht mehr metaphysische Spekulationen, die auf Gott und das Jenseits gerichtet waren, sondern der Mensch, der sein Leben entwirft und dafür verantwortlich ist.

Der freie Wille

In seiner Rede über "Die Würde des Menschen" beschrieb der humanistische Philosoph Pico della Mirandola eindrucksvoll die Stellung des Menschen, die ihm der göttliche Schöpfer verlieh: "Ich habe dir, Adam, weder einen bestimmten Platz noch irgendeine Aufgabe übertragen, damit du, nach eigener Bewertung und Überlegung, erlangen und bewahren sollst, welchen Platz, welche Aufgabe immer du begehrst. Du sollst sie dir selbst festsetzen, von keiner Schranke gezwungen, nach eigenem freien Willen, in dessen Macht ich dich übergebe."

Der Mensch hat die Möglichkeit, seine Existenz selbst zu gestalten. Er zeichnet sich durch die Freiheit aus, sein Leben nach eigenen Maßstäben zu gestalten; als Maxime gilt: "Du kannst alles, was du willst".

Die Konzentration auf das menschliche Subjekt war Teil einer breiten Bildungsbewegung, die auf antike Vorstellungen zurückgriff. Davon zeugen Texte zur Ethik, Pädagogik, Anthropologie und zum Staatswesen, die von unterschiedlichen Autoren stammen: von den italienischen Frühhumanisten Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio; von den in Florenz tätigen Neuplatonikern Marsilio Ficino und Pico della Mirandola oder von den Späthumanisten Giordano Bruno und Michel de Montaigne.

Die Renaissance-Humanisten erhofften sich eine optimale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten durch die Verbindung von Wissen und Tugend. Die humanistische Bildung sollte den Menschen befähigen, seine wahre Bestimmung zu erkennen und durch die Nachahmung klassischer Vorbilder ein ideales Menschentum zu verwirklichen - "als freierer und würdigerer Schöpfer und Bildner seiner selbst". Das Individuum hat laut Pico della Mirandola die Wahl, seine triebhafte Animalität auszuleben oder sich zu einem göttlichen Wesen emporzuheben. Trotz der Subjektzentrierung sind die humanistischen Philosophien der Renaissance keineswegs ein monolithisches Gebilde, sondern vielmehr ein Patchwork von unterschiedlichen, manchmal konträren philosophischen Positionen.

Der in Münster lehrende Philosoph Thomas Leinkauf hat kürzlich eine zweibändige, beinahe zweitausend Seiten umfassende Studie "Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350-1600)" vorgelegt, in der er - wissenschaftlich akibisch - die Fülle und Vielfalt einer Epoche präsentiert, die heute wenig bekannt ist, jedoch zahlreiche oriinelle Denkanstöße gegeben hat.

In den beiden voluminösen Bänden legt Leinkauf nicht nur eine eindrucksvolle, an Materialfülle und Gelehrsamkeit kaum zu übertreffende Darstellung verschiedener humanistischer Philosophien vor, sondern thematisiert auch die Kultur- und Sozialgeschichte dieser Epoche; speziell die Überzeugung, dass der Mensch die Fähigkeit habe, alles wissen zu können und mit einer unbegrenzten Forschungs- und Erfindungskraft ausgestattet sei.

Forschungsdrang

Die Entdeckung der außereuropäischen Welt durch wagemutige Schiffsexpeditionen, die Entdeckung der Planeten durch das Fernrohr und der Buchdruck, mit dem eine mediale Revolution begann, waren einige Resultate des expansiven Forschungsdranges. Er zeigte sich auch in der Wirtschaft, in der sich neue Kapital- und Handelsformen ausbildeten und eine Dynastie von vermögenden Unternehmern wie die Medici oder die Fugger ermöglichten.

Der humanistische Dichter und Philosoph Francesco Petrarca.
© Fresko von Andrea di Bartolo di Bargilla, Uffizien, Wikipedia

Fast zeitgleich wie Thomas Leinkaufs Buch wurde das ebenfalls äußerst umfangreiche Werk "Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance" des Historikers Bernd Roeck publiziert. Anders als Leinkauf, der die breit angelegte Darstellung des jeweiligen Sujets bevorzugt, schildert Roeck - Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich - die Geschichte der "wohl faszinierendsten Epoche" in kleinen Erzählungen. Er versteht sein Buch als "Archäologie, die das Echolot in die Tiefe richtet und dann Schicht auf Schicht aufgräbt".

Dabei umfasst dieser Vorgang neben der Vertiefung in philosophische, literarische und kunsthistorische Schichten auch die Erkundung von historischen und gesellschaftspolitischen Prozessen, wobei die Schattenseiten wie Glaubenskriege, Hexenverfolgungen, Inquisition, kirchliche und staatliche Korruption und die Anfänge des Kolonialismus ebenfalls thematisiert werden.

Bei Leinkauf und Roeck nimmt der Dichter und Philosoph Francesco Petrarca einen zentralen Stellenwert ein. Der Gelehrte, der von 1304 bis 1374 lebte, rückte als erster Denker des Humanismus die Aufmerksamkeit auf seine eigene Person. Während bei Philosophen und Theologen des Mittelalters - etwa Thomas von Aquin - das Ich ausgespart wurde, verstand Petrarca seine Philosophie als Anleitung zu einem offenen, experimentierfreudigen Leben, das sich selbst immer wieder in Frage stellt.

Leinkauf weist darauf hin, dass sich das Ich bei Petrarca aus verschiedene Facetten zusammensetzt: es sind "das Mit-oder Bei-sich-Sein, das auf ein bestimmtes Ziel Aus-Sein, das Sich-darstellen-Wollen, das Wissen-Wollen oder das Lieben-Wollen". Wesentlich ist die Selbstbefragung, die Selbstbeobachtung, die eine Ich-Authentizität ermöglicht - "ein Kraftfeld, ein Gravitationszen-trum", das als wesentliches Signum der humanistischen Philosophie bis zu Giordano Bruno und Michel de Montaigne fortwirkt.

Kritik am Mittelalter

Petrarca, der neben Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio zu den bedeutendsten Gestalten des Frühhumanismus zählt, hat neben seinen Betrachtungen zum Ich ein umfangreiches Werk hinterlassen. Es umfasst leidenschaftliche Gedichte an seine imaginäre Geliebte Laura, Abhandlungen über die "humanitas" - über die Bedingungen eines wahrhaft menschlichen Lebens auf den Grundlagen antiker Bildung und philosophischer Schriften -, in denen er sich gegen die scholastische Tradition der Philosophie wandte, die sich auf logische Schlüsse und dialektische Spitzfindigkeiten bezog und damit das Denken des Mittelalters geprägt hatte.

Petrarcas Kritik ist erstaunlich aktuell; sie könnte gegen den zeitgenössischen wissenschaftlichen Betrieb gerichtet sein, der im Spezialistentum das höchste Ausbildungsziel sieht: "Da wissen die Gelehrten viele Dinge über Tiere, Vögel und Fische. Wie viele Haare der Löwe im Scheitel trägt und wie viel Federn der Falke im Schwanze. Sie wissen, wie die Elefanten sich begatten und dass sie zwei Jahre im Mutterschoße bleiben. Was aber nützt es, die Natur der Tiere, der Vögel und Schlangen zu kennen und die Natur des Menschen und seinen Zweck, seine Herkunft und sein Endziel nicht zu kennen".

Ein anderer bedeutender Gelehrter der Renaissance ist Marsilio Ficino - der Florentiner Arzt und Humanist, der sich der spekulativen Philosophie zuwandte und ein eigenwilliges System von Platonismus, Neoplatonismus und Christentum konstruierte. Der 1433 geborene Marsilio Ficino studierte Griechisch, was ihn befähigte, die Originalquellen der platonischen Philosophie ins Lateinische zu übersetzen.

Ficino beschäftigte sich nicht nur mit Platon, sondern las auch Plotin oder Schriften, die dem Zoroaster, Orpheus oder Pythagoras zugeschrieben wurden. Als Arzt und Philosoph gab er in dem Werk "Drei Bücher über das Leben" Ratschläge, wie sich lange und gut leben lasse.

Platon als Vorbild

Schon seit frühester Jugend verkehrte Ficino am Hofe des Fürsten Cosimo de’ Medici, von dem er 1462 eine Villa in der Nähe von Florenz erhielt. Es ist dies gleichsam das Gründungsdatum der "Platonischen Akademie". Hier traf sich ein Kreis von Philosophen und Künstlern, um zu diskutieren. Allmählich entwickelte sich die "Platonische Akademie" zum Zentrum des humanistischen Denkens. Sie versammelte einige der besten Gelehrten und Künstler der Zeit wie den Architekten Leon Battista Alberti, den Humanisten Angelo Poliziano oder den Rhetorikprofessor Cristoforo Landino.

Die einzige Vorbedingung für die Teilnahme an dem illustren Kreis bestand darin, Platon zu studieren und von ihm zu lernen. Dessen Einfluss zeigte sich auch in Ficinos Hauptwerk "Die platonische Theologie", in dem die unsterbliche menschliche Seele einen zentrale Rolle spielt. Sie vermittelt zwischen Geist und Materie, Einheit und Vielheit, Ruhe und Bewegung. Sie ist der "Knoten der Welt", der den Kosmos zusammenhält. "Die Seele ist die mittlere Stufe der Dinge; sie verbindet alle Stufen, sowohl die höheren als auch die niederen zu einem Ganzen", schrieb Ficino.

Wesentlich ist der Aufstieg der Seele zu Gott durch die "vita contemplativa", die sich durch ein tugendhaftes Leben, durch Weisheit und durch die Liebe zu den Menschen, die nichts mit Sexualität zu tun hat, auszeichnet. Ficinos Kontemplation ist - laut Leinkauf "das Gegenteil einer Sinnes-Begierde- und Lust-orientierten Gesellschaft". Das höchste Ziel der menschlichen Existenz, das die Seele realisieren kann, besteht darin, Gott ähnlich zu werden.

Ein Teilnehmer an den Disputationen der "Platonischen Akademie" war Pico della Mirandola, der Verfasser der Rede "Über die Würde des Menschen". Er verfügte - ähnlich wie Ficino - über eine umfassende Bildung; so hatte er Hebräisch gelernt, um die Kabbala im Original lesen zu können. In seinen Schriften vertrat Pico die These, dass die Weltreligionen grundsätzlich übereinstimmten.

Dieser Grundgedanke veranlasste ihn, 900 Thesen zu formulieren, die er 1486 in Rom im Alter von 23 Jahren veröffentlichte. Die Thesen bilden eine Summe oft einander widerstreitender philosophischer und theologischer Reflexionen, die aus der antiken Philosophie, der Scholastik, der arabischen Philosophie und der Kabbala stammen. Die Anordnung der Thesen erfolgte folgendermaßen: "Die zu behandelnden Lehrsätze werden nach Völkern und deren Oberhäuptern angeführt, betreffs der Teile der Philosophie jedoch ohne Unterscheidung, sozusagen wie in einem bunt zusammengemischten Allerlei." Über die Hälfte der Thesen, die von Gott, der Mathematik und der Magie handeln, gab Pico als eigene Gedanken aus.

Kampf um Toleranz

Mit der Veröffentlichung der Thesen verband er den kühnen Plan, die bedeutendsten Gelehrten des Abendlandes nach Rom einzuladen, um mit ihnen Lehrsätze zahlreicher Philosophen und Theologen aus verschiedenen Kulturkreisen zu diskutieren. Sogar die Reisekosten wollte er ersetzen. Dieser utopische Plan, gleichsam einen Weltkongress abzuhalten, der die Toleranz befördern sollte, scheiterte an Papst Innozenz VIII.; er ließ dreizehn der neunhundert Thesen als häretisch erklären und den gesamten Text verbieten.

Im Patchwork der humanistischen Philosophien spielt auch das Werk von Leon Battista Alberti eine wichtige Rolle. Er beteiligte sich an den Diskussionen der "Platonischen Akademie" und galt als glänzender Repräsentant des "uomo universale". Alberti, der von 1404 bis 1472 lebte, verfasste Abhandlungen über die Malerei und die Architektur und die auch heute noch viel gelesene Abhandlung "Über die Familie". Darin äußerte er sich über die Ökonomie des familiären Haushalts, über die Ehe, die Kindererziehung und über die Freundschaft. Er verstand diese Schrift als eine Ethik des Privatlebens, die sich durch Tugend, Menschlichkeit und Umgänglichkeit auszeichnet.

Obwohl Alberti neben Leonardo da Vinci vielfach als Universalist und Lichtgestalt der Renaissance angesehen wurde, finden sich in seinen Schriften bereits Hinweise auf die "Nachtseiten" dieser Epoche. In seinen satirischen Schriften "Intercoenales" ("Tischgespräche") erweist sich Alberti als profunder Kenner der Abgründe der menschlichen Existenz, wie sie in ihrer Radikalität sehr viel später von Luigi Pirandello und Samuel Beckett aufgezeigt wurden.

Während die konstruktiven Schriften über gesellschaftliche und kunsttheoretische Themen die "Lichtseite" von Alberti darstellen, bezeichnete er die satirischen Schriften als "Frucht meiner Nachtwachen". Ein Ergebnis davon ist der Text "Defunctus", in dem ein Verstorbener das eigene Begräbnis beobachtet und erkennen muss, dass alle Werte, die er hochgehalten hatte, sich als Illusionen erwiesen: Er erlebt die Untreue seiner Ehefrau, muss zusehen, wie sein Sohn das Erbe verprasst, und der Geschäftspartner sein Unternehmen zu Grunde richtet. Verbittert erkennt der Verstorbene, dass sich sein von der Tugend - vom virtus - bestimmtes Leben als Illusion erwies; solch ein Leben ist in einer Gesellschaft, die von Lüge, Betrug, Niedertracht und Habgier bestimmt wird, nicht möglich.

In dem Roman "Momus oder Vom Fürsten", in dem Alberti eine beißende Kritik der Götter und der Menschen vornimmt, kommt Momus - der Gott der Kritik und der Satire, der seine Erfahrungen, die er bei einem Besuch auf der Erde gemacht hat - zu dem Schluss: "Der Mensch ist dem Menschen die Pest".

Das gesamte öffentliche Leben - so fasst Momus seine Erfahrungen zusammen, wird von der Verstellung und Vorstellung falscher Tatsachen, von Heuchelei, Rach- und Gewinnsucht bestimmt. Es ist der Egoismus, der sich hinter dem Schleier des Altruismus verbirgt; das auch in der aktuellen Politik immer wieder vernehmbare Motto lautet: Alles für das Allgemeinwohl! Die Folgerung, die Momus zieht, lautet: Da ein wahres Leben im ganz Falschen nicht möglich ist, gibt es für ihn nur eine akzeptable Lebensform - die des Vagabunden: "frei zu sein und unbeschwert zu leben, vollkommen Herr zu sein über sich selbst und seine Wünsche".

Lebenskunst

"Frei und unbeschwert zu leben", das war auch das Ziel des Philosophen Michel de Montaigne, der kokett von sich behauptete, kein Philosoph zu sein. Der freie Geist im Sinne Friedrich Nietzsches lebte in einer von Religions-und Bürgerkriegen zerrütteten Zeit, in der jegliche staatliche oder religiöse Orientierung verlorengegangen war. Seine "Essays" sind eine Antwort auf eine Realität, die nur mehr als Ansammlung von Fragmenten existierte, die den Einzelnen bedrohten. Vor diesem Hintergrund ist sein Rückzug auf sich selbst nachvollziehbar.

Montaigne führte die von Petrarca initiierte Hinwendung auf das Ich am Ende des 16. Jahrhunderts fort und radikalisierte sie auf eine bisher nicht bekannte Weise. In seinem Werk spricht er hauptsächlich von sich selbst, von seinen Vorlieben, seiner körperlichen Befindlichkeit und von seinen Lektüren. Das Ziel war die Ausbildung einer Lebenskunst, die sich nicht um zeitgenössische Konventionen kümmert. "Hast du dein Leben zu bedenken und zu führen gewusst?", schrieb Montaigne, "so hast du das größte aller Werke vollbracht."

Literaturhinweise:
Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance(1350-1600), 2 Bände, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017, 1937 Seiten, 203,60 Euro.
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance; C. H. Beck, München 2017, 1304 Seiten, 45,30 Euro.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.