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Durchs wilde Erdoganistan

Von Thomas Seifert

Leitartikel

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Lange hat man Angela Merkels Engelsgeduld bewundert: Wenn Recep Tayyip Erdogan, der wilde Mann am Bosporus, der deutschen Kanzlerin "Nazi-Methoden" vorwarf, dann blieb sie besonnen und forderte im Bundestag mit ruhiger Stimme: "Diese Vergleiche der Bundesrepublik Deutschland mit dem Nationalsozialismus müssen aufhören." Merkel hatte erkannt, dass Konflikt und Streit für Erdogan purer Sauerstoff sind, dass ihm, der die Türkei Schritt für Schritt in Erdoganistan umbaut, am besten dadurch entgegengetreten werden kann, indem man seine Worte nicht allzu ernst nimmt und ihnen auch nicht allzu viel Bedeutung zumisst.

Mit dem Berliner Appeasement-Kurs ist es nach unzähligen Beleidigungen und Rempeleien aus Ankara, der Verhaftung eines deutschen Journalisten und zuletzt eines deutschen Menschenrechtsaktivisten vorbei: Rechtzeitig vor dem Beginn der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs warnte das deutsche Außenamt am Donnerstag seine Bürger vor Reisen durchs wilde Erdoganistan. Diese Maßnahme ist ein weiterer schwerer Schlag für den ohnehin schwer gebeutelten türkischen Tourismus.

Aber nicht nur das: Die Regierung in Berlin warnt gleichzeitig alle Unternehmen vor Investitionen in der Türkei, nachdem die Türkei deutsche Firmen der Terrorunterstützung bezichtigt hatte. Exportkreditversicherungen sollen überdacht und EU-Finanzhilfen zur Disposition stehen. Deutschland hat nun offenbar die Hoffnung endgültig aufgegeben, dass eine Rückkehr zu einem konstruktiven Dialog mit Erdogan möglich ist.

Die Eiszeit zwischen der Türkei und Europa ist für den Kontinent zwar betrüblich - ist die Türkei doch die Brücke Europas in den Nahen Osten und der Schlüssel zur Schwarzmeerregion -, für die Türkei ist dies aber ein Desaster. Denn das Land sieht einer sehr ungewissen Zukunft entgegen: Die Auslandsinvestitionen sind rückläufig, das Leistungsbilanzdefizit steigt genauso wie die Staatsschulden, während die Wirtschaft stagniert. Auch politisch droht Erdogan weiteres Ungemach: Wenn die Kurden im Nordirak Ende September ihre Unabhängigkeit erklären, dann wird dies auch den Autonomiebestrebungen in den Kurdengebieten der Türkei weiteren Auftrieb geben.

Erdogan mag zwar den starken Mann mimen, sein Erdoganistan steht aber auf tönernen Füßen.