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"Dürfen Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln"

Von Stefan Beig

Europaarchiv

Deutsch-türkische Anwältin übt umfassende Kritik an patriarchalen Mustern. | Wien. "Auch in Deutschland und Österreich gibt es patriarchale Strukturen, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Wir dürfen nicht wegschauen." Diese Mahnung richtete die deutsch-türkische Rechtsanwältin Seyran Ates in einem Vortrag am Mittwochabend gerade auch an "Linksliberale", zu denen sie sich selber zählt. Ihr Hauptkritikpunkt: Das vorherrschende Verständnis von Multikulturalität sei "organisierte Verantwortungslosigkeit", die Toleranz mit Gleichgültigkeit verwechselt.


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Seyran Ates, die selber aus einer anatolischen Einwandererfamilie stammt, tritt in der Öffentlichkeit besonders stark für die Rechte misshandelter muslimischer Frauen ein, die sie auch als Anwältin vertritt. "Muslimische Frauen haben es gerade bei Scheidungen viel schwieriger", berichtete sie. "Im Gerichtssaal sitzt einem die ganze Großfamilie gegenüber." Die Gewalt an muslimischen Frauen nehme zu: "Immer mehr muslimische Frauen füllen die Frauenhäuser. Sie sind besonders schwerer Gewalt über einen sehr langen Zeitraum ausgesetzt."

Ehrenmorde nur mit weiblichen Opfern

In ihrem Vortrag nannte Ates mehrere Probleme, die auch in ihrem Buch "Der Multikulti-Irrtum" behandelt werden. Eines davon waren Ehrenmorde. "Es gibt in muslimischen Gesellschaften einen Ehrbegriff, der um das sexuelle Fehlverhalten der Frau kreist. Das sieht man daran, dass Ehrenmorde nur an Frauen geschehen. Burschen töten zum Beispiel ihre Schwester, weil sie einen deutschen Freund hatte." Islamverbände müssten akzeptieren, dass solche patriarchale Strukturen in Europa abgeschafft wurden.

Ein anderes "islamisches" Thema heißt "Zwangsheirat": "Es gibt kein deutsches oder österreichisches Mädchen, für das der Ehepartner ausgesucht wird." In türkischen Familien führten hingegen Zwangsheiraten zu Vergewaltigungen. "Die Behauptung, das sei ein Einzelfall, halte ich für menschenverachtend."

Gerade hinter solchen Aussagen orten Ates Kritiker Islamfeindlichkeit. Die Rechtsanwältin aber betont: "Es geht nicht darum, den Islam zu verbieten. Das Problem sind Strömungen innerhalb der Muslime, die einfach nicht akzeptiert werden dürfen." Dazu gehörten patriarchale Strukturen und der politische Islam. "Bestimmte patriarchalische Werte werden dort mit Islam verbunden. Linksliberale dürfen dieses Thema nicht den Rechten überlassen." Den vorherrschenden Multi-Kulti-Begriff lehnt Ates deshalb ab: "Es reicht nicht, dass man sich gegenseitig leben lässt. Wir leben gemeinsam in einer Gesellschaft. Nun gibt es Leute, die gegen diese Gesellschaft sind."

Dabei verwies sie auf entstandene Parallelgesellschaften. Hier müsse man beachten, "ob es Dinge gib, die den Menschenrechten widersprechen, etwa betreffend die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Anerkennung der gelebten Homosexualität und die Religionsfreiheit." Andernfalls würde die Integration nicht funktionieren.

Siehe auch Seite 14