"Ein Mann verliert das Leben, aber nicht seine Ehre" heißt es im "Kanun", einem jahrhundertealten Moralkodex, der in Albanien nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch zur Anwendung kam. Nach einer Pause von 50 Jahren meldet sich jetzt mit der Blutrache ein mittelalterlicher Sanktionsmechanismus zurück.
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Schon eine abfällige Bemerkung über die Ehefrau eines Kontrahenten, gedankenlos ausgesprochen, kann den Tod bedeuten. Vor allem im Norden Albaniens ist das "heilige Gesetz der Blutrache", das keine Gnade und keinen Richter kennt, nach wie vor an der Tagesordnung. Tausende Menschen, darunter Frauen und Kinder, leben in Angst vor einem überholten Sanktionsmechanismus, der seinen Ursprung in der patriarchalen Stammesgesellschaft des Spätmittelalters hat.
Zurückzuführen ist die Blutrache auf den "Kanun", ein über Jahrhunderte mündlich weitergegebenes Regelwerk, das Bestimmungen von der Hausgerichtsbarkeit des Familienoberhauptes über das Gebot der Gastfreundschaft bis zum Ehrbegriff und dessen Verteidigung umfasst. Demnach waren gewisse erlittene Beleidigungen durch Tötung eines Mitglieds der Verursacher-Sippe zu rächen.
Ehrverlust und Sühne
"Zur Anwendung kam dieses Sanktionsmittel ursprünglich nur bei Totschlag, Mord, Verführung und Vergewaltigung", erklärt Karl Kaser, Südosteuropa-Experte an der Karl-Franzens-Universität gegenüber der "Wiener Zeitung". "Bei solchen Vorfällen war allgemein klar, was zu tun ist - es gab kein institutionalisiertes Schiedsgericht." Bei Ehrverlust wurde die Blutrache angekündigt, das Opfer musste aber nicht unbedingt mit dem Täter ident sein: "Im Normalfall galt: Je angesehener das Opfer, desto eher war dem Gebot der Blutrache genüge getan und die Integrität des Geschädigten wiederhergestellt." Um die Spirale von Gewalt und Gegengewalt nicht ins Unendliche ausufern zu lassen, war es nach den Normen des Kanun durchaus üblich, dass Vermittler die streitenden Sippschaften dazu brachten, der Blutrache abzuschwören. Wissenschafter weisen darauf hin, dass es sich bei der Blutrache ursprünglich um einen zwar brutalen, aber keineswegs willkürlichen Kodex gehandelt habe.
Werte-Vakuum
Nachdem die Blutrache in Albanien während der letzten 50 Jahre als beseitigt galt, erlebt sie jetzt im 21. Jahrhundert eine regelrechte Renaissance. Die Ursache für dieses Phänomen liegt im Zusammenbruch des KP-Regimes, das von dem Erzdogmatiker Enver Hoxha nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet (siehe Artikel rechts) und 1990 in einem Volksaufstand gestürzt wurde. Ein Macht- und Wertevakuum und die praktische Nicht-Existenz staatlicher Autorität (siehe unten) ist die Ursache dafür, dass Vorstellungen aus dem Mittelalter erneut zum Tragen kommen. Die anerkannte Südosteuropa-Expertin Christine von Kohl weist allerdings darauf hin, dass es keineswegs die ursprüngliche Form der Blutrache ist, die heute in Albanien ausgeübt wird. "Die Tradition der Blutrache ist vorbei, das, was wir heute sehen, ist reine Rache." Karl Kaser führt dieses Phänomen darauf zurück, dass die alten Stammesstrukturen als unabdingbares Fundament des Kanun während des Hoxha-Kommunismus "effizient zerschlagen" wurden. So sei das Wissen um die Vorgaben der Ahnen, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, nach 50 Jahren sozialistischem Gesellschaftsumbau "schwammig". "Es gibt keine allgemein gültige Form des Kanun mehr und keine Autorität, die bestimmt, wie die tradierten Gesetze anzuwenden sind", so Kaser.
Außer Kontrolle
Was zu einer "Verwilderung" der alten Sitten und Bräuche geführt hat. So werden heute Kinder und Frauen in die Blutrache einbezogen - viele von ihnen leben praktisch unter Hausarrest, weil sie sich nicht auf die Straße wagen können. Die Mafia bedient sich des alten Kodex, um Erpressungen und Einschüchterung zu betreiben. Ein fragwürdiger Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Ordnung ist vollends außer Kontrolle geraten.