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Ehrenwerte Mordversuche

Von Clemens M. Hutter

Wissen

Zufälle retteten Hitler vor den Attentaten zweier Einzelgänger: Dem Theologen Maurice Bavaud verstellte die SA die Sicht, und die Bombe des Tischlers und Uhrmachers Georg Elser explodierte 13 Minuten zu spät.


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13. November 1938, im Schnellzug zwischen München und Augsburg ertappt der Schaffner einen Schwarzfahrer und übergibt ihn der Bahnpolizei, weil die Barschaft von 8,30 Euro (Geldwert 2012) für die Nachzahlung nicht reicht und der Mann kaum ein Wort Deutsch kann. Sein Reisepass weist ihn als den 22-jährigern Schweizer Maurice Bavaud aus, für den nun die Gestapo zuständig ist. Man findet in seiner Rocktasche eine geladene Pistole und sechs Patronen und steckt ihn wegen Fahrkartenbetrugs und illegalen Waffenbesitzes für zwei Monate in ein Gefängnis - Zeit genug für die Gestapo, einen Mann zu enttarnen, der unglaubliche, aber bisher unbeachtete Spuren hinterlassen hat.

Bavaud stammt aus Neuchâtel, tritt nach der Ausbildung zum technischen Zeichner in ein Priesterseminar ein und beschließt dort, Hitler zu ermorden, um die Kirche vor ihrem Verfolger zu schützen und die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Er eignet sich zur Tarnung den Nazi-Jargon an, verlässt das Priesterseminar, angelt sich aus dem kleinen Gemüseladen seiner Mutter umgerechnet 2770 Euro, hinterlässt bei seiner Abreise am 9. Oktober 1938 die knappe Notiz, dass er sich "eine Existenz aufbauen" wolle, und fährt zu einer Großtante in Baden-Baden. Sie will ihm bei der vorgeschützten Jobsuche helfen und spannt auch ihren Sohn ein, einen Nazi-Karrieristen. Der warnt seine Mutter sofort: Ein technischer Zeichner - der will den Bau des Westwalls ausspionieren. Er informiert die Gestapo, doch nichts passiert.

Am 20. Oktober verabschiedet sich Bavaud von seiner Großtante mit der Begründung, dass er in Mannheim einen Job finden wolle, fährt aber nach Basel, kauft dort eine Pistole und zehn Patronen und reist sofort nach Berlin, wo er sich bei einer alten Dame einmietet. Tagelang schlendert er durch das Regierungsviertel, beobachtet die Reichskanzlei und kauft noch 25 Schuss Munition. Da liest er in einer französischen Zeitung, dass Hitler auf dem Obersalzberg weile. Seiner Vermieterin sagt er, dass er dringend nach Dresden reisen müsse, lässt etliches Gepäck bei der Dame, fährt aber nach Berchtesgaden, streift auffällig um das abgesperrte "Führergelände", sammelt Informationen über Hitlers Gepflogenheiten und "lernt" im Wald das Pistolenschießen, das man weitum hört, aber nicht einmal die Polizei stört.

Als Journalist getarnt

Durch Zufall trifft er mit dem Sicherheitschef des "Führergeländes" zusammen und ersucht ihn, doch eine Begegnung mit dem Führer zu ermöglichen. Antwort: "Das ist derzeit unmöglich, weil der Führer so sehr beschäftigt ist, dass er nicht einmal seine Minister empfängt." Aber am 8. und 9. November nehme Hitler an den Gedenkfeiern für die beim gescheiterten Putsch von 1923 getöteten Nazi in München teil.

Bavaud kehrt nach München zurück, stellt sich in der Auslands-Pressestelle der Nazipartei als Westschweizer Journalist vor, wird nicht um einen Presseausweis gefragt, mimt Begeisterung für Hitler und bekommt ohne weitere Nachprüfung eine Karte für die erste Reihe auf der Ehrentribüne, vor der Hitler am 9. November an der Spitze des Gedenkzuges vorbeimarschieren wird. Sogleich inspiziert Bavaud den Standort der Ehrentribüne, ermittelt, dass Hitler ungefähr in einer Distanz von sieben Metern an der Tribüne vorbeigehen wird, deckt sich mit mehr Munition ein und trainiert in einem Wald bei München Treffsicherheit auf sieben Meter Distanz. Weil das auffällt, mietet er am Ammersee ein Ruderboot, bastelt Papierschiffchen und übt an diesen schwimmenden Zielen seine Treffsicherheit.

Der Fehlschlag

Doch am 9. November schlägt Bavauds Strategie fehl. Vor der Ehrentribüne zieht ein zweireihiger SA-Kordon auf, die hintere Reihe den Ehrengästen zugewandt. Wie da unbemerkt die Pistole ziehen? Zudem marschiert Hitlers Kolonne nicht in der Straßenmitte, sondern nahe dem Straßenrand gegenüber. Damit ist das geplante Attentat gescheitert. Aber der junge Mann gibt nicht auf und erfährt, dass Hitler nach den Feiern nach Berchtesgaden reise. Ehe Bavaud nachreist, fälscht er zwei Empfehlungsschreiben mit dem Hinweis, dass Bavaud dem Führer eine persönliche Botschaft überbringe. Doch in Berchtesgaden weisen ihn Hitlers Bewacher ab. Wegen Geldmangels beschließt Bavaud, sich daheim Geld zu besorgen und wird im Zug als Schwarzfahrer abgefangen. In einem Geheimprozess wird er zum Tod verurteilt und 1941 hingerichtet. Als Hitler von diesem gescheiterten Attentat erfährt, sinniert er laut, dass ihn "jederzeit ein Verbrecher oder ein Idiot beseitigen" könne.

In diese Kategorie fällt nach dem Nazi-Jargon der 36-jährige gelernte Tischler und Uhrmacher Georg Elser, ein unauffälliger schwäbischer Junggeselle, dem später das Nazi-Zentralorgan "Völkischer Beobachter" bescheinigen wird, dass er "keine Verbrecherphysiognomie" habe und nicht wie ein "satanisches Untier" aussehe. Elser ist Einzelgänger, ausdauernder technischer Tüftler, politisch einigermaßen belesen und davon überzeugt, dass Hitler Krieg bedeute und deshalb getötet werden müsse.

Im November 1938, als Bavauds Attentat scheitert, erkundet Elser in München, wie er Hitler erwischen könnte und entdeckt den "idealen Tatort": den großen Saal des "Bürgerbräukellers", in dem Hitler an jedem 8. November eine Rede zu halten pflegt. Neben der Rednertribüne stützt eine holzgetäfelte Säule die Decke. Sprengt man diese Säule, stürzt die Decke ein und erschlägt Hitler und etliche Nazi-Prominente.

Zurückgekehrt in seine schwäbische Heimat, macht sich Elser penibel an die Planung des Attentats. Er nimmt einen schlecht bezahlten Job in einem Steinbruch an, entwendet in kleinen Mengen insgesamt 10 kg Donarit und Gelatine und versteckt das brisante Diebesgut zwischen der Wäsche in seinem Kleiderschrank.

Zu Ostern 1939 inspiziert Elser unauffällig den Tatort und wartet, bis niemand mehr in diesem Saal ist. Dann vermisst er binnen fünf Minuten die Säule, macht mehrere Fotos und Skizzen und erkundet hinterher, ob und wie der Saal nachts überwacht wird. Dann macht er sich daheim an die Konstruktion einer Höllenmaschine: eine Bombe, deren Zeitzündung ein Uhrwerk lenkt. Mehrere Versuche im Garten seines Elternhauses verlaufen befriedigend, fallen zwar auf, wecken aber niemandes Neugier.

Im Sommer 1939 bastelt Elser einen Holzkoffer mit doppeltem Boden, verstaut darin den Sprengstoff, verkauft seine bescheidene Habe, übersiedelt mit knapp 2000 Euro (Geldwert 2012) Barschaft und dem nötigen Werkzeug am 5. August nach München, mietet ein billiges Zimmer und erklärt dem Vermieter, dass er einen Polierkurs besuche und nachts oft außer Haus sei, weil er auf einer Parkbank ungestört an einer Erfindung arbeite. Seinen brisanten Holzkoffer steckt er unter das Bett.

Nächtliche Arbeiten

Im "Bürgerbräukeller" nimmt Elser häufig ein bescheidenes Abendessen ein und beobachtet dabei, dass der Saal um 22 Uhr versperrt wird und wegen der "Verdunkelungspflicht" ab Kriegsbeginn am 1. September unbeleuchtet bleibt. Daran orientiert sich sein Arbeitsplan: Er schmuggelt langsam und unauffällig sein Arbeitsgerät in einen mit Gerümpel gefüllten Nebenraum des Saales. Dann versteckt er sich in diesem Raum bis zur Saalsperre und findet heraus, dass der Saal nachts gelegentlich sehr oberflächlich inspiziert wird. Am Morgen versteckt er sich wieder im Nebenraum bis der Saal wieder aufgesperrt wird und verschwindet unauffällig.

Ab 11. September lässt sich Elsner 35 Nächte am Tatort einsperren und macht sich an die Arbeit. Zuerst löst er ein Stück Vertäfelung von der Säule und baut sie in eine geschickt getarnte Türe um. Spärliches Licht spendet ihm dabei eine mit einem blauen Taschentuch umwickelte Taschenlampe. Dann aber beginnt der schwierigste Teil: Aus der mit Backsteinen aufgeführten Säule bricht er mit Meißel und Bohrer Stück für Stück heraus. Gröbere Stemmarbeiten unternimmt er, wenn alle WC des Gebäudes im Zehn-Minuten-Takt automatisch spülen und somit "Lärmschutz" bieten. Damit kein Schutt auf den Boden fällt, bastelt er aus einem Handtuch einen kleinen Sack, den ein eingezogener Draht offen hält, und klemmt ihn in unter den Ausbruch. Den Schutt entsorgt er in die Isar.

Einmal drohte Elsner aufzufliegen, als zwei Hunde nachts in den Saal stürmten und heftig bellten. Doch Elsner konnte sie besänftigen und niemandem fiel das auf. Ein anderes Mal schlief Elsner im Nebenraum auf einem Stuhl ein, ein Bediensteter entdeckte ihn und rannte zum Chef. Ehe dieser kam, holte Elser aus seiner Tasche Papier und Bleistift, setzte sich an einen Tisch und begann zu schreiben. Als ihn der Chef anherrschte, erklärte ihm der Entdeckte, dass er nur in Ruhe einen Brief schreiben wolle. Daraufhin verwies ihn der Chef unüberprüft des Hauses.

Hitlers frühe Abreise

Am 6. November waren die Höllenmaschine in die Säule eingebaut und die Zündung auf den 8. November 21.20 Uhr eingestellt, denn Hitlers Reden hatten bisher immer bis gegen 22 Uhr gedauert. In der Nacht auf den 8. November prüft Elser nochmals unauffällig den Tatort: Die Uhr der Maschine tickt kaum hörbar. Am Morgen fährt er mit dem Zug nach Konstanz, um bei Einbruch der Dunkelheit über den Grenzzaun in die Schweiz zu flüchten. Doch zwei Zöllner stellen ihn, halten ihn für einen Deserteur, nehmen ihn fest und finden in seiner Tasche u. a. diverses Werkzeug. Derweil dröhnt aus dem Radio Hitlers Rede, die allerdings um 21.07 Uhr endet, da der Führer dringend nach Berlin fahren muss. 13 Minuten später erschüttert eine Explosion den "Bürgerbräukeller", die Decke stürzt ein, tötet acht Personen und verwundet 63. Somit fehlten nur 13 Minuten, um den Kurs der Weltgeschichte zu verändern.

Stunden später gerät Elser in die Mangel der Gestapo und gesteht bis in das letzte Detail den ganzen Hergang, weil man diesem unscheinbaren Mann einfach kein Attentat ohne Hintermänner zutraut. Dann verschwindet er im KZ Dachau. Am 5. April 1945, zwanzig Tage vor der Befreiung des Lagers durch US-Truppen, befiehlt SS-Chef Himmler, den Häftling Elser umzubringen.

Bavaud und Elser lösten in Hitlers Machtapparat Schockwellen aus: Wie konnten diese beiden "Autodidakten des Tötens" ganz allein und unentdeckt ihre Pläne verfolgen? Und wie miserabel ist Hitlers Personenschutz, wenn er in offenem Wagen durch Menschenmassen fahren will oder bei jeder Gelegenheit ein "Bad in der Menge" zu nehmen beliebt?

Hitler selbst sah das ganz anders, nämlich als Beweis dafür, dass ihn die Vorsehung schütze, damit er seine Ziele erreiche.

Clemens M. Hutter, geboren 1930, war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten" und ist überdies Autor von bisher rund 45 Büchern.