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Gerlich: "Mächtige setzen sich andere Grenzen des Akzeptablen." | "Freiheitlichen fehlten Erfahrung und Hemmungen." | "Wiener Zeitung": Schlagzeilen über moralisches Fehlverhalten in der Politik häufen sich bedenklich, wie ist es aus Ihrer Sicht um die Moral unserer Politiker bestellt? | Peter Gerlich: Da muss man verschiedene Ebenen unterscheiden: Es gibt eine individuelle Moral, die sich auf ein allgemein richtiges Verhalten bezieht. Hier neigen wir dazu, bei Politikern höhere Maßstäbe anzulegen als an uns selbst.
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Das andere ist der Anspruch der Bürger an ihre gewählten Vertreter, nicht korrupt zu sein. In diesem Zusammenhang hat Vaclav Havel einmal gemeint: Man kann als Mächtiger durchaus anständig bleiben, aber es ist verdammt schwer. Das belegen auch Experimente in den USA, die zeigen, dass Macht zu Missbrauch verführt, dass sich Mächtige andere Grenzen des Akzeptablen setzen. Das wirkt sich vor allem in jenem Graubereich von Korruption aus, der gerade noch nicht strafbar, aber auch nicht mehr völlig korrekt ist. Wie schwierig hier klare Grenzen sind, hat der gescheiterte Versuch in Österreich gezeigt, das Anfüttern von öffentlichen Amtsträgern rigoros zu verbieten.
Gibt es Zyklen korrupter Politik? Manches, worüber dieser Tage debattiert wird, weckt Erinnerungen an die Netzwerk-Skandale der 80er Jahre rund um den Club 45.
Immer, wenn ein Regime lange an der Macht ist, entstehen günstige Bedingungen für Korruption. Ein Regierungswechsel bedeutet deshalb immer auch ein Aufräumen mit alten, verkommenen Strukturen. Andererseits ist jede neue Regierung leider immer auch ein Startschuss für den Aufbau neuer Seilschaften und Netzwerke .. . Das tiefer liegende Problem ist: Das Gefühl, dass sich jeder Einzelne so viel holen soll, wie er nur kann, der egoistische Eigennutz wurde zum gesellschaftlichen Leitprinzip erhoben. Zwar lernen Wirtschaftsstudenten ein klein bisschen über Business ethics , aber die Betonung liegt selbst im Studium immer noch auf der Rational choice theory , die die Nutzenmaximierung predigt.
Sind die Zustände in Österreich tatsächlich schlimmer als in anderen Ländern?
Zumindest ist bei uns vieles möglich, was woanders nicht akzeptabel wäre. Das betrifft vor allem den Umgang mit Parteifinanzen.
Ist es Zufall, dass sich immer wieder Freiheitliche oder solche, die dank diesen zu höheren Weihen gelangten, im Mittelpunkt der Berichterstattung über finanzielle Ungereimtheiten wiederfinden?
Diese hatten einfach keine Erfahrung, was das Regieren angeht, und auch wohl nur geringe Hemmungen, weil sie so lange von SPÖ und ÖVP von den Futtertrögen der Republik ferngehalten wurden. Die Freiheitlichen sammelten auch eine Schar von Leuten um sich, die sonst keine Chance hatten, nach oben zu kommen. Ideologische Gemeinsamkeiten spielten, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.
Spielt Charakter bei der Selektion des politischen Personals überhaupt eine Rolle?
Bei SPÖ und ÖVP dominiert bis heute die Ochsentour von ganz unten. Hier kommen die zum Zug, die vor allem eines sind: brav. Das sagt zwar noch nichts über die Moral dieser Menschen aus, sehr wohl prägt es aber die Persönlichkeit. Am ehesten gibt es einen freien Wettbewerb bei der personellen Selektion noch im dritten Lager, ganz einfach deshalb, weil das ein so chaotischer Haufen ist.
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Gerlich wird heute, Donnerstag, anlässlich seines 70. Geburtstages im vergangenen Dezember mit einer Festschrift "Europa als Prozess - 15 Jahre Europäische Union und Österreich" (LIT Verlag) geehrt. Manfried Welan, langjähriger Rektor der Universität für Bodenkultur, bezeichnet Gerlich im Vorwort als einen der "Väter der Politikwissenschaft in Österreich".