Nachdem sie am 22. September ihre Stimme für die Bundestagswahl abgegeben hatte - auf Fragen, welche Partei sie gewählt habe, antwortet sie verschmitzt: "Das ist mein Wahlgeheimnis" -, hat die große alte Dame des deutschen Liberalismus, Hildegard Hamm Brücher, ihrem Parteivorsitzenden Guido Westerwelle, der bei ihrem Parteibeitritt im Jahre 1948 noch lange nicht geboren war, die Austrittserklärung geschickt. "Nach 54-jähriger Parteizugehörigkeit (darunter viele Jahre in führenden Parteiämtern) vermag ich in einer zur rechten Volkspartei à la Möllemann gestylten FDP keine Spuren eines Theodor Heuss, eines Thomas Dehlers . . . mehr zu entdecken. Damit habe ich meine politische Heimat verloren und muss von heute an, traurigen Herzens, zur Wechselwählerin werden", schrieb sie in ihrem Brief am Westerwelle.
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Hildegard Hamm Brücher wirft Westerwelle vor, seine Führungsverantwortung nicht rechtzeitig und ausreichend wahrgenommen zu haben. "Sie haben zu lange geschwiegen und dem Möllemann-Kurs nicht rechtzeitig Paroli geboten" heißt es wortwörtlich in dem Brief. Hamm Brücher wandte sich entschieden gegen Stimmenmaximierung ihrer Partei nach den Rezepten von Jörg Haider und Jean-Marie Le Pen.
Unter dem Titel "Ich schäme mich hatte Hamm Brücher schon im Mai in einem im "Spiegel" veröffentlichten Brief anlässlich der damaligen Debatte um Möllemann geklagt, dass "eine neue Variante von Antisemitismus salonfähig wird". Bereits in diesem Brief hatte sie einen Parteiaustritt angedroht, wenn es nicht innerhalb der FDP zu einer Kursänderung komme. "Wenn wir nicht wenige Monate vor der Bundestagswahl stünden, würde ich den Schritt, der mir schwer fällt, schon jetzt tun. Noch aber überwiegt ein Rest von Verbundenheit und Rücksicht zu meiner Partei, der ich in einem entscheidenden Wahlkampf, wenn irgend möglich, nicht schaden möchte".
In ihrer Autobiographie "Freiheit ist mehr als ein Wort" hat Hildegard Hamm Brücher, seit ihrer Kindheit eine begeisterte Wassersportlerin, ihre kindliche Angst vor dem ersten Sprung vom Zehn-Meter-Turm beschrieben: Nachdem sie gesprungen sei, sei sie ganz glücklich gewesen, schilderte sie vor einigen Jahren in einem Interview mit dem bayerischen Rundfunk ihr damaliges Empfinden. "Es hat ein bisschen gepatscht und ich bin noch einmal gesprungen. Nachträglich habe ich mir überlegt, welche Situationen in meinem Leben dieser ursprünglichen Situation ähnlich gewesen sind. Und dabei habe ich dann entdeckt, dass ich eigentlich immer gesprungen bin."
In Interviews mit Sandra Maischberger im Nachrichtenkanal n-tv und mit Johannes B. Kerner in dessen Talk-Show hat Hildegard Hamm Brücher in den letzten Tagen ihren Schritt mit ihrer eigenen Biographie begründet.
Die am 11. Mai 1921 als älteste von fünf Geschwistern in Essen geborene Hildegard Brücher hat ihre politische Prägung im Kreis der Münchner Widerstandsbewegung "Weiße Rose" erfahren.
Nachdem sie im Alter von zehn Jahren kurz hintereinander beide Eltern verloren hatte, wurde sie mit ihren Geschwistern von ihrer Großmutter in Dresden aufgezogen, die - obwohl schon deren Eltern protestantisch getauft waren - nach den Nürnberger Gesetzen als Jüdin galt. Als diese Großmutter in den Kriegsjahren nach Theresienstadt deportiert werden sollte, hat sie Selbstmord begangen.
Hildegard Brücher war 1937 in das Internat in Schloss Salem am Bodensee gegangen, wo in der NS-Zeit, solange es ging, regimekritische Lehrer die Jugend erzogen. Anschließend begann sie ein Chemiestudium in München, wo sie nach der Exmatrikulierung aus rassistischen Gründen im Jahr 1943 nach Kriegsende bei Nobelpreisträger Heinrich Wieland mit einer Dissertation über "Untersuchung an den Hefemutterlaugen der technischen Ergosterin-Gewinnung" promovierte. Einer ihren engsten Studienkollegen, war der 1943 im Zusammanhang mit der Verfolgung der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" hingerichtete Hans Leipelt.
Von 1945 bis 1948 war Hildegard Brücher wissenschaftliche Redakteurin bei der "Neuen Zeitung". 1949/50 setzte sie ihre Studien an der Harvard-Universität fort.
Der FDP trat sie am 2. Mai 1948 bei, nach einem Treffen mit Theodor Heuss. Von 1948 bis 1954 war sie Stadträtin im Münchener Rathaus, wo sie ihren späteren Mann, einen CSU-Politiker kennen lernte. 1950 wurde sie auch Mitglied des Bayerischen Landtags, wobei sie 1962 mit einer Vorzugsstimmenkampagne vom 17 auf den ersten Listenplatz kam. Als die FDP 1966 in Bayern an der fünf-Prozent-Hürde scheiterte, wurde die Bildungspolitikerin Hamm Brücher, die schon seit 1963 dem FDP-Bundesvorstand angehörte, Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium. In der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt wurde sie 1969 Staatssekretärin im Bildungs- und Wissenschaftsministerium. Bei der bayerischen Landtagswahl 1970 zog die FDP nicht zuletzt durch das gute Abschneiden Hamm-Brüchers in Mittelfranken wieder in den Landtag ein. Im Wahlkampf hatte CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß sie als "Krampfhenne" verunglimpft. Hamm Brücher meinte später, dass ihr das 20 Prozent ihrer mehr als 100.000 Vorzugsstimmen gebrachte habe. Von 1972 bis 1976 war sie dann FDP-Fraktionsvorsitzende in Bayern und stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, 1976 wurde sie Staatssekretärin im Außenministerium unter Hans-Dietrich Genscher, eine Funktion, die sie bis zum Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 innehatte. Entgegen ihrer Partei sprach sie damals dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt nicht das Mißtrauen aus und verließ die Regierung. Dem Bundestag gehörte sie bis zum 1. Jänner 1991 weiter an. Ihre viel beachtete Abschiedsrede hielt sie in der Debatte um den deutschen Einigungsvertrag. 1994 wurde sie zur FDP-Bundespräsidentschaftskandidatin nominiert, ihre Partei ließ sie dann aber zugunsten von Roman Herzog fallen. Als die Bayerische FDP im September 1998 eine Koalitionsaussage zugunsten der CSU beschloss, verließ sie die Landespartei und war seither nur mehr Mitglied der Bundes-FDP, der sie jetzt den Rücken gekehrt hat.