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Lehrerdienstrecht, Schulformen, Unterrichtsmethoden – der Streit über die Pädagogik ist so alt wie diese selbst. Ihre Ursprünge hat die Schule im südlichen Mesopotamien, bei den alten Sumerern.
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Lehrer sollen gefälligst mehr arbeiten, sie haben eh zu lange Ferien, ätzen die einen. Lehrer sind echt arm bei den heutigen Schülern, meinen die anderen. Kaum ein Beruf ist so kontrovers in der öffentlichen Wahrnehmung wie jener der Pädagogen. Und das nicht erst seit Pisa und der Gesamtschuldebatte. Schon in der griechischen und römischen Antike hatten Lehrer einen schweren Stand. Sie wurden zunächst geringgeschätzt und schlecht bezahlt. Erst um 500 v. Chr. wandelte sich im antiken Griechenland das Bild der Lehrer, die damals ihre Schüler noch bei sich daheim unterrichteten, im Gefolge des Aufstiegs der großen Philosophen, beginnend mit Thales, Anaximander und Pythagoras. Auch in der Römischen Republik (509 bis 27 v. Chr.) waren Lehrer zunächst nicht allzu hoch geschätzt, und viele Eltern übernahmen den Unterricht selbst. Erst in der nachfolgenden Kaiserzeit wurden öffentliche Schulen gegründet.
Dabei hatte alles so schön begonnen. Als die Sumerer vor mehr als 5000 Jahren im südlichen Mesopotamien den Schritt zur Hochkultur vollzogen, kannten sie nicht nur als Erste den spezifischen Beruf des Lehrers, sondern auch schon Schulen. "Väter" und "Söhne" nannten einander Lehrer und Schüler, gelernt wurden nicht nur die rund 2000 Schriftzeichen der sumerischen Keilschrift, sondern auch Mathematik und Zeichnen, und neben schlichten Aufsätzen standen auch Fabeln, Weisheitslehren, Hymnen und Epen auf dem Lehrplan. Und auch eine andere frühe Hochkultur kannte den Schulbesuch: In Ägypten wurden nicht nur Buben, sondern auch (seltener) Mädchen in den Tempelschulen und Verwaltungsgebäuden unterrichtet. Auf dem Stundenplan standen Lesen, Schreiben, Mathematik, Geografie, Geschichte, Astronomie, Bildhauerei, Malerei und Sport. In beiden Hochkulturen dürften freilich nur Kinder wohlhabender Familien in den Genuss des Unterrichts gekommen sein.
Auch in Südostasien gab es schon zu Zeiten der Antike Schulinfrastrukturen. In Indien hatten bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. buddhistische Lehrer ihre Zöglinge instruiert. Und aus China ist die älteste weiterführende Schule der Welt bekannt, die zwischen 143 und 141 v. Chr. in Chengdu in der Provinz Sichuan gegründet wurde und eine konfuzianische Schule beherbergte.
Hippias und die Allgemeinbildung
Aber zurück nach Griechenland: Dort legte Hippias von Elis um 400 v. Chr. eine enzyklopädische Erziehungslehre vor, die man schon als "Allgemeinbildung" betiteln könnte: Sie beinhaltete sowohl die Geschicklichkeit in nützlichen Künsten als auch das erforderliche Wissen für das öffentlich-gesellschaftliche Leben. Ein knappes Jahrhundert später tauchten dann die bekanntesten Lehrer der griechischen Antike auf: Sokrates (470 bis 399 v. Chr.), der mit Ironie (das Wissen um das Nichtwissen führt in die Fragwürdigkeit), Dialektik (prüfendes Entscheiden im Streitgespräch) und Mäeutik (Wertevermittlung mittels Hebammentechnik) die Grundlagen der späteren abendländischen Pädagogik legte. Sein Schüler Platon (427 bis 347 v. Chr.) zeichnete in seiner "Politeia" das Musterbild eines Staates, in dem es drei Stände – Bauern/Handwerker, Wächter/Krieger, Philosophen/Herrschende – gibt, auf die das Bildungswesen die heranwachsenden Bürger entsprechend ihrer Zugehörigkeit optimal vorbereitet. Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) wiederum vereinigte in seiner Person wissenschaftliche Forschung, philosophische Reflexion und erzieherische Tätigkeit, wie es der Erziehungswissenschafter Winfried Böhm in seiner "Geschichte der Pädagogik" formuliert.
Emotionale Selbstbeherrschung und Gelassenheit wiederum standen im Zentrum der Pädagogik der römischen Stoiker, deren berühmteste Vertreter Seneca (4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) und Epiktet (60 bis 140 n. Chr.) waren. Dieser Lehre ging es darum, dass der Mensch seinen Platz in der Welt findet und akzeptiert. Die Frage, wie der Mensch sein Leben gestaltet, war später auch für Augustinus (354 bis 430), einen der wichtigsten Kirchenlehrer der Spätantike, zentral. Die Pädagogik des konvertierten Heiden Augustinus war stark geprägt von der christlichen Heilslehre.
Keine Schule ohne Religion
Apropos Religion: Wer heute die Abschaffung des Religionsunterrichts fordert, dem sei gesagt: Ohne die Kirche gäbe es womöglich gar kein breitenwirksames Schulsystem in Europa. Denn bis zum 13. Jahrhundert waren es fast ausschließlich Geistliche in kirchlichen Schulen, von denen die Kinder aus wohlhabenden Familien lernten. Erst dann wurden allmählich öffentliche Schulen eingerichtet.
Eine allgemeine Schulpflicht für Buben und Mädchen führte aber erst 1592 das deutsche Herzogtum Pfalz-Zweibrücken als erstes Land der Welt ein, andere deutsche Fürstentümer folgten (eine Schulpflicht nur für Buben hatte bereits 1559 die große Kirchenordnung in Württemberg festgeschrieben, für Mädchen galt sie erst ab 1649). Die protestantische Reformation spielte also eine tragende Rolle bei der Einführung der Schulpflicht. 1717 verfügte auch Friedrich Wilhelm I. in Preußen, dass jedes Kind zwischen fünf und zwölf Jahren zur Schule zu gehen habe. 1919 wurde die allgemeine Schulpflicht in der Weimarer Verfassung einheitlich für ganz Deutschland festgeschrieben. In Norwegen entstand das Volksschulwesen 1739 per Verordnung. In Österreich und den anderen Habsburgerländern war es bekanntlich Maria Theresia, die 1774 eine sechsjährige Schulpflicht einführte. In Frankreich setzte Ministerpräsident Jules Ferry 1882 durch, dass Kinder zwischen sechs und 13 Jahren zur Schule gehen mussten.
Schulpflicht als Absichtserklärung
Dazu muss allerdings gesagt werden, dass die meisten Schulpflichtgesetze bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eher Absichtserklärungen waren. Einerseits gab es meist noch gar kein flächendeckendes Schulsystem, es fehlten Schulgebäude, Lehrer und eine entsprechende Bürokratie. Andererseits gab es vor allem in der Landbevölkerung Widerstand: Kinder, die in die Schule gingen, fehlten als Arbeitskräfte. Dass sich zunächst die Volksschule (erstmals wurde der Begriff 1779 geprägt) und später auch höhere Schulen durchsetzten, lag dann nicht zuletzt daran, dass militärische Rekrutierungsstellen Gesundheitsmängel als Folge der Kinderarbeit beklagten und auf die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht sowie eine Alphabetisierung der Bevölkerung drängten. Und es war auch die Zeit der Nationenbildung in Europa – die Schule war ein Teil der Nationalerziehung.
In den meisten Ländern Europas besteht übrigens heute keine Schulpflicht im eigentlichen Sinn, sondern Unterrichtspflicht beziehungsweise Bildungspflicht. Das bedeutet: Die Vermittlung von Wissen ist für das Kind nicht an den Besuch einer Schule gebunden.
Der richtige Umgang mit dem Kind
Wie aber nun die Schüler unterrichten? Und was sollen sie lernen? Auch diese Frage ist wohl so alt wie die Schule selbst. Immer wieder gab es Pädagogen und Philosophen, die sich Gedanken darüber machten. Der Renaissance-Humanismus zum Beispiel setzte auf eine enzyklopädische Bildung, der es – wie schon bei Augustinus – vor allem um die sittlichen Maßstäbe menschlichen Handelns ging. Zentrale Themen waren Sprache, Geschichte, Moral, Politik, Erziehung und Rhetorik. Beispiele, Bilder, vorgelebte Erfahrungen und argumentativer Dialog sollten zu vernünftigem Wählen und freiem Handeln führen. Prägende Figuren dabei waren Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536) und Francesco Petrarca (1304 bis 1374). Diesen pädagogischen Prinzipien ähnlich waren auch jene der Reformatoren wie Martin Luther (1483 bis 1546), der mit seiner Bibelübersetzung die Inhalte dem einfachen Volk zugänglich machte.

Für eine Allgemeinbildung im eigentlichen Sinn trat als Erster der tschechische reformierte Bischof Jan Amos Komensky alias Comenius (1592 bis 1670) ein: Sie sollte überall und jederzeit allen Menschen zustehen, unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht oder Alter. Comenius nahm nicht nur den Gedanken des lebenslangen Lernens vorweg, sondern entwarf auch das Idealbild einer Schule, die weit mehr sein solle als bloße Unterrichtsanstalt, sondern auch ein Ort, an dem die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse anzusetzen habe, indem der Mensch durch einsichtiges Lernen in die Unversehrtheit seines Ursprungs zurückgeführt werde.
Bessere Menschen, nämlich "Gentlemen", wollte auch der Aufklärungsphilosoph John Locke (1632 bis 1704) bilden. Er legte dabei weniger Gewicht auf das (Viel-)Wissen als auf die Tugend und die Aktivität des Lernens. Sein didaktisches Programm lautete: "Res, non verba" (Dinge, nicht Worte). Das alte Kernthema der Tugend griff auch eine Gesellschaft praktischer Erzieher in Deutschland auf, die 1785 bis 1792 eine 16-bändige "Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens" erstellte. Ihre Aufklärungspädagogik bestimmte die Tugend aber in den praktischen Zielbegriffen der Brauchbarkeit und Gemeinnützigkeit, konzentriert auf richtigen Vernunftgebrauch, strenge Disziplinierung und rationale Beherrschung des affektiven Trieblebens durch Arbeit und Strebsamkeit. Auf die Spitze gebracht könnte man darin auch eine drillhafte Abrichtung sehen.
Rousseaus Wunschtraum
Mit Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) erreichte die Idee der Pädagogik einen Gipfelpunkt, meint der Erziehungswissenschafter Winfried Böhm. Unter Bezugnahme auf wichtige Vorgänger thematisierte Rousseau wohl zum ersten Mal die Erziehung selbst als einen eigenen Gegenstand, nicht theoretisch als Annex von Philosophie oder Theologie und auch nicht inhaltlich-praktisch von irgendeiner religiösen oder politisch-gesellschaftlichen Funktion her, sondern die Erziehung solle den Menschen zu seiner Bestimmung führen: "Leben ist der Beruf, den ich ihn lehren will." In seinem Werk "Émile oder Über die Erziehung" schilderte Rousseau sein (nicht realisiertes) Idealbild der Erziehung von der Geburt bis zur Heirat, ein Wunschtraum als eine Art Gegenentwurf zu den damaligen Erziehungsmethoden. Das wirklich Neue bei Rousseau: Die Erziehung solle sich nicht mehr an einer künftigen Bestimmung des Heranwachsenden ausrichten, sondern vielmehr umgekehrt die prinzipielle Unvorhersehbarkeit der Zukunft berücksichtigen.
Sein Zeitgenosse Immanuel Kant (1724 bis 1804) ärgerte sich über den desolaten Zustand dieser Disziplin, die seiner Meinung nach planlos und zufällig auf Umstände und Gegebenheiten reagiere, und postulierte ein selbständig urteilendes Erziehungshandeln, aufbauend auf einer idealischen Idee, wie nicht bloß der einzelne Schüler individuell, sondern die gesamte Menschheit zu erziehen wäre. Und Kant, aber noch stärker Johann Friedrich Herbart (1776 bis 1841) sah die Notwendigkeit einer pädagogischen Berufswissenschaft für die professionellen Erzieher und den aufkommenden Lehrerstand. Die Frage der Lehrerausbildung beschäftigte also schon vor Jahrhunderten die großen Denker der Pädagogik.
Lasst die Kinder spielen
Und auch die Auseinandersetzung Frontalunterricht ("Nürnberger Trichter"-Vorstellung) versus Freies Lernen und Reformpädagogik ist eigentlich ein alter Hut. Schon Friedrich Schiller (1759 bis 1805) und Friedrich Fröbel (1782 bis 1852) propagierten das Spiel als Unterrichtsmethode. Das kindliche Spiel, betonte Fröbel, sei keineswegs bloße Spielerei, sondern habe hohen Ernst und tiefe Bedeutung, "denn es ist zugleich Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens." Und Friedrich Diesterweg (1790 bis 1866) forderte, vom Kind auszugehen und dessen natürliche Neigungen, Interessen und Bedürfnisse zum pädagogischen Richtmaß zu nehmen, um freie Entfaltung und spontane Entwicklung zu ermöglichen.
Nicht an Schiller, sondern an Goethe orientierte sich Rudolf Steiner (1861 bis 1925) in seiner Waldorfpädagogik (heute gibt es weltweit 1026 Waldorfschulen, davon 712 in Europa). Der von ihm geprägte "Goetheanismus" ist "eine Naturanschauung, die den Gedanken des Werdens und der Entwicklung, der Metamorphose und des Eingebettetseins der Naturerscheinungen in die Umgebung betont." Er verfolgte das Prinzip der rhythmischen Gliederung oder Ritualisierung von Unterrichts-, Tages-, Wochen- und Jahresverlauf sowie die intensive Ausgestaltung des Lernumfeldes bis in eine spezifische Schulhausarchitektur hinein. Den Hauptunterricht (Deutsch, Mathematik, Sachkunde, Kunst, Geschichte, Biologie, Geografie, Physik und Chemie) der ersten acht Schuljahre übernimmt ein Klassenlehrer, der als "richtunggebende Persönlichkeit" fungiert, entsprechend dem von Steiner geforderten Prinzip der "Nachfolge und Autorität". Für die übrigen Fächer hingegen gibt es eigene Lehrer.
Mindestens genauso bekannt – und oft (polemisch) kritisiert – wie die Pädagogik Steiners ist jene Maria Montessoris (1870 bis 1952). Diese beruhte auf dem Bild des Kindes als "Baumeister seines Selbst" und verwendete deshalb zum ersten Mal die Form des offenen Unterrichts und der Freiarbeit. Sie kann insofern als experimentell bezeichnet werden, weil der Lehrende durch Beobachtung des Kindes geeignete didaktische Techniken finden soll, um den Lernprozess maximal zu fördern.
Das Motto "learning by doing" wiederum geht auf den bedeutendsten nordamerikanischen Pädagogen, John Dewey (1859 bis 1952), zurück. Sein Ansatz: Taucht ein praktisches Problem auf, für das die bisherige Erfahrung keine eingeschliffene Lösung bietet, entwirft man eine mögliche Lösung erst hypothetisch und prüft sie dann in der Praxis – wenn sie sich bewährt, gilt sie bis auf weiteres als "wahr". Für den Unterricht bedeutet das, nicht nur das bisherige, eingefrorene Wissen im Lehrstoff zu vermitteln, sondern diesen ständig zu adaptieren.
Die aktuelle Debatte zur Gesamtschule wurde übrigens in den 1970ern schon einmal breit geführt. Der sozialistische Reformpädagoge Paul Oestreich (1878 bis 1959) hätte bereits in den 1920ern ein fertig ausgearbeitetes Konzept für eine "Elastische Einheitsschule" geliefert – in der Praxis konnte sich sein Modell allerdings nicht nachhaltig durchsetzen.
Print-Artikel erschienen am 6.September 2013 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"
BuchtippsWinfried Böhm: Geschichte der Pädagogik – Von Platon bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck. 8,20 Euro
Winfried Böhm: Die Reformpädagogik – Montessori, Waldorf und andere Lehren
Verlag C.H.Beck, 9,20 Euro