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Ein Abgang, der den Brexit beflügelt

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Ein dramatischer Rücktritt hat allen Anschein konservativen Zusammenhalts zerstört.


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London. Drei Monate vor der Volksabstimmung fürchtet der britische Premier David Cameron erstmals, dass sein Land allen Ernstes einem Brexit entgegen "schlafwandelt" und vielleicht schon bald nicht mehr in der EU sein wird. Der Ausgang des Referendums am 23.Juni stehe mittlerweile "auf Messers Schneide", warnt Cameron. An diesem Tag sollen die Briten über ihre weitere EU-Mitgliedschaft abstimmen.

Der Regierungschef, der das Pro-EU-Lager anführt, sieht unterdessen seine Autorität in Partei und Regierung rasch schwinden. Britischen Medien zufolge teilen immer mehr Tories die Überzeugung, dass Cameron am 24.Juni zurücktreten müsse - egal wie das Referendum ausgeht.

Gestern, Montag, versuchte Cameron nach dem Rücktritt seines Arbeitsministers Iain Duncan Smith einzulenken. Seine konservative Regierung werde die angekündigten Änderungen bei den Unterstützungszahlungen an Behinderte nicht weiter verfolgen. Duncan Smith war im Zorn aus der Regierung ausgeschieden. Er hatte den Premier beschuldigt, eine "zutiefst unfaire" Politik gegenüber den Armen im Lande zu verfolgen. Duncan Smith, der früher selbst einmal Parteichef war, warf Cameron und und dessen Schatzkanzler George Osborne vor, den rechten konservativen Kurs "aus den Augen zu verlieren". Die Regierung drohe "in eine Richtung zu treiben, die die Gesellschaft spaltet, statt sie zu einen", sagte er.

Der Minister hatte sich lang vergebens dagegengestemmt, dass drakonische Einsparungen Osbornes fast durchweg Sozialhilfe-Empfängern und Niedrigverdienern galten, während die Wohlhabenden im Lande von Reduktionen verschont blieben. Zu weit gingen Duncan Smith erneute Abstriche bei den staatlichen Zuwendungen an Behinderte in Osbornes Haushaltserklärung. Im Grunde schröpfe die Regierung jene Teile der Bevölkerung, "die eh nicht für uns stimmen", sagte er. Reiche Pensionisten kämen dagegen ungeschoren davon.

Cameron zeigte sich "verblüfft und enttäuscht". Am Telefon hatte der Regierungschef seinen langjährigen Minister offenbar sogar einen "Scheißkerl" genannt.

In der Öffentlichkeit suchte die Regierungszentrale den Eindruck zu erwecken, Duncan Smith habe nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich von der Regierung abzukoppeln, um sich der Brexit-Kampagne zu widmen. Neben Justizminister Michael Gove und dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson ist er der prominenteste Befürworter eines EU-Austritts.

Konsequenzen hat Duncan Smiths Rücktritt aber sehr wohl fürs EU-Referendum -und für die künftige Führung der Partei. Die gegenwärtige EU-freundliche Spitze der Konservativen verliert zusehends an Popularität, je mehr sie von "Rebellen" wie Duncan Smith als elitär und als allzu offensichtlich in der Tasche der Reichen wirtschaftend charakterisiert wird.

"Jetzt", hieß es bereits im "Observer", "können die Brexit-Befürworter damit kommen, dass einer ihrer wichtigsten Repräsentanten die eigene Karriere geopfert hat, um die Armen und Schwachen der Nation zu verteidigen." Das könne sich für die Brexit-Leute als nützlich erweisen zu einer Zeit, "in der das Misstrauen gegen abgehobene Eliten, sei es in Westminster oder Brüssel, größer ist denn je".

Am Montag verlangte nicht nur die oppositionelle Labour Party, sondern bereits auch eine Anzahl konservativer Politiker den Kopf von Osborne. Seine Hoffnungen auf die Cameron-Nachfolge könne er "begraben", meinen viele Tories. Als klarer Favorit für Downing Street Nummer 10 gilt nun der Liebling der Partei, Boris Johnson - der Kopf der Brexit-Kampagne. Sollte Cameron im Juni wirklich stürzen, stünde Johnson als nächster britischer Premierminister bereit.

Den jüngsten Umfragen zufolge wäre ein Sieg der EU-Gegner am 23.Juni keineswegs ausgeschlossen. Eine Meinungsumfrage des ORB-Instituts geht davon aus, dass 47 Prozent der Briten für den Verbleib in der EU und 49 Prozent für einen Austritt sind. Bei denen, die "mit Sicherheit zur Wahl gehen" wollen, ist der Anteil der Brexit-Fans aber um einiges größer. In dieser Kategorie sind nur 45 Prozent für den Verbleib, 52 Prozent jedoch dagegen.