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Die Eliten wissen, dass der Nationalstaat ausgedient hat, nur den Bürgern sagt es keiner.
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Am Anfang stand der Traum von der Einheit von Staat und Volk. In den Mythen war davon die Rede, dass sich die Nationen ihre Staatlichkeit erkämpften. Oftmals gegen den blutigen und erbitterten Widerstand jener transnationalen Eliten, die seit jeher festgesetzte Grenzen als wider die Natur empfanden.
Näher an der historischen Realität ist, dass sich die Staaten ihre Nationen erschufen und mit den Machtmitteln des Zentralismus Heterogenität in Homogenität verwandelten. Von Frankreich aus infizierte das Fieber des Nationalismus nach dem Feuer der Großen Revolution 1789 nach und nach ganz Europa. Herausgekommen ist der Nationalstaat, dessen Idee schließlich - unter tatkräftiger Mithilfe der Kolonialherren - zum Siegeszug um den ganzen Globus ansetzte.
222 Jahre nach seiner ideengeschichtlichen Geburtsstunde stehen für den Nationalstaat die Zeichen allerdings auf Abschied. Sicher, das wurde auch schon nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gesagt und mit der anschließenden Spaltung der Welt in Einflusssphären zweier hegemonialer Imperien wurde Ähnliches noch einmal wiederholt. Das hinderte jedoch den totgesagten Nationalstaat keineswegs daran, sich munter in der Welt fortzupflanzen. In den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, erlebte die Idee von der Einheit von Staat und Volk sogar eine neue Blüte - in Osteuropa, am Balkan, in Zentralasien und auch anderswo. Rousseaus romantische Vorstellung von der Nation als freier Willensentscheidung kämpft noch immer gegen die Wirkmächtigkeit von Blut und Boden.
Doch diese Gründerwelle scheint nur ein letztes Aufbäumen gewesen zu sein. Tatsächlich konnten es die neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa, kaum dass sie entstanden waren, gar nicht erwarten, sich der Europäischen Union anzuschließen. Am Ende des 20. Jahrhunderts war der Glaube an die nationale Souveränität als geeignetes Mittel zur Lösung anstehender Herausforderungen endenwollend.
Die Idee, die Europa neben den blutigsten Kriegen seiner Geschichte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit versprochen und in Form der liberalen Demokratie sogar weitgehend eingelöst hatte, war plötzlich nicht mehr zeitgemäß, die Probleme der Globalisierung sind unseren Nationalstaaten über den Kopf gewachsen. Ein neues Modell muss her, diesmal eines, das wieder Grenzen überwinden hilft und Regelungsmacht an übergeordnete Instanzen umverteilt.
Es ist ein aus der Not geborener Weg, den Europa zu beschreiten entschlossen ist. Oder, genauer, den die europäischen Eliten entschlossen sind zu gehen. Die Entwicklung gemeinsamer politischer Standpunkte, das Herbeiführen konsensualer Entscheidungen zwischen mittlerweile 27 und bald (Kroatien!) 28 Mitgliedstaaten erweist sich immer mehr als unmögliche Mission. Zumal in historischen Umbruchphasen, in denen die Zeit, die für Entscheidungen aufgewendet werden muss, Geld im wahrsten Wortsinn vernichtet.
Es ist ein Gebot der kühl kalkulierenden Vernunft, dass Europa seine nationalstaatliche Organisation hinter sich lässt und sich auf den Weg zu einem Bundesstaat macht. Ein Blick auf die neuen Machtzentren rund um den Globus macht deutlich, warum: Niemanden in Peking, Brasilia, Neu Delhi, Jakarta oder Johannesburg interessiert, was in Warschau, Helsinki oder Den Haag, ganz zu schweigen von Wien, zu diesem oder jenem Problem der Weltpolitik gesagt wird. Entweder Europa spricht mit einer Stimme, oder eben gar nicht.
Zweifellos hat die Schuldenkrise und die damit einhergehende Sorge um den Fortbestand der Gemeinschaftswährung diese in der Idee der europäischen Integration vorgezeichnete Entwicklung raketengleich beschleunigt. Der Euro erwies sich tatsächlich als jener Integrationsmotor, als der er von vielen bei seiner Geburt insgeheim erhofft worden war. Nur auf die Dramatik der Situation hätten wohl auch die meisten EU-Aficionados gerne verzichten können. Dass der Euro aufgrund seiner Konstruktionsmängel die Union an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnte, war definitiv nicht Teil eines größeren Plans.
Das langsame Dahinscheiden der europäischen Nationalstaaten als Zentren sämtlicher politischer Entscheidungsprozesse ist beileibe keine kleine Sache und in seinen Auswirkungen bedeutend weitreichender, als es die allermeisten Akteure zu ermessen vermögen. Das ist tatsächlich eine historische Zäsur. Diese - sei es aus tagespolitischem Opportunismus oder weil man eben als kleiner Politiker große Debatten scheut - jetzt zu einem weiteren Schritt in einem langen Marsch kleinzureden, erscheint eher kontraproduktiv. Es ist höchste Zeit für reinen Wein in den Gläsern der Bürger.
Tatsächlich war der Nationalstaat historisch jenes Gefäß, in dem sich Demokratie, Bürgerrechte und die liberale Marktwirtschaft unter dem Schutzschirm nationaler Souveränität entwickeln konnten. "War" deshalb, weil dieser absolute Souveränitätsanspruch zusehends zum Potemkin’schen Dorf mutierte. Insbesondere in Europa wurden im Zuge seiner Integration nationale Kompetenzen an überstaatliche Institutionen übertragen. Den vorläufigen Höhepunkt dieser zumeist schleichend vor sich gehenden Entwicklung ist die Installierung einer europäischen Kontrollinstanz, die künftig die strikte Einhaltung der Maastricht-Regeln für Staatshaushalte überwacht.
Zur Einhaltung von Maastricht waren die EU-Staaten zwar schon bisher verpflichtet, und auch die Möglichkeit von Sanktionen war vertraglich verankert. Allerdings wurde davon bisher nie ernsthaft Gebrauch gemacht. Das wird sich, seit Griechenland, Portugal, Irland und Italien mit ihrer überbordenden Staatsverschuldung den Euro an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben, nun radikal ändern. Nationale Souveränität in budgetpolitischen Fragen war einmal in Europa.
Sind wir noch ein Staat?" Und: "Sind wir schon ein Staat?" Wir stellen uns, so der Wiener Politologe Manfried Welan, diese beiden Fragen seit gut zwanzig Jahren - die erste bezieht sich auf den europäischen Nationalstaat, die zweite auf die Europäische Ebene. Und auch wenn wir nicht Mitglied in der EU wären, wären wir heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr der Staat, der wir vor dem Beitritt noch gewesen sind. Die Schweiz, vielfach verklärtes Vorbild EU-müder Österreicher, zeigt das vor. Sicher ist: Wir sind kein Staat mehr als eigenständige Nation und wir sind noch kein Staat als Europäische Union. Wir schweben frei im Zwischenraum, das Ergebnis dieser Reise kann heute niemand vorhersagen. Es wird eine genuin europäische Innovation sein - ganz so wie zuvor bereits der Nationalstaat.
Allerdings ist derzeit die EU höchst unvollkommen auf ihre künftigen Aufgaben vorbereitet. Zwar verfügt sie über entsprechende politische Institutionen, doch fehlt diesen in den Augen der allermeisten Bürger eine gleichwertige demokratische Legitimität, die an die Stelle ihrer Heimatsstaaten zu treten vermag. Die Union ist demokratiepolitisch ein Mängelwesen, erschaffen aus den Kompromissen, die die Interessengegensätze ihrer Mitglieder zu verdecken suchten. Rat, Kommission und Parlament haben in ihrem komplexen Zusammenwirken durchaus die ersten Schritte zu einer Demokratisierung absolviert. Wie aber ein künftiges Ineinandergreifen von europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Politik vonstatten gehen könnte, darüber kursieren mehr Fragen als konsensfähige Antworten unter den Mitgliedstaaten. Und wenn man dann noch zwischen den Meinungen von Bürgern und Eliten unterscheidet, wird die Uneinigkeit noch verwirrender.
Am schwersten dürfte der Abschied vom souveränen Nationalstaat der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe, dem prekarisierten Kleinbürgertum, fallen. Die kleinräumigen Verhältnisse vermittelten Geborgenheit und Schutz. Tatsächlich gelang es den allermeisten europäischen Wohlfahrtsstaaten - entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt -, den eisigen Stürmen der Globalisierung die schärfsten Spitzen zu nehmen. Dass ausgerechnet die Schulden, mit denen dieses heimelige Wärme erkauft werden musste, nun den Untergang beschleunigen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Politisch ist dieser Transformationsprozess längst nicht bewältigt, tatsächlich wurde noch nicht einmal mit einer Debatte darüber begonnen. Jede sich bietende Gelegenheit, seien es Nationalrats-, seien es Europa-Wahlen oder die Ausarbeitung und Ratifizierung des Lissabon-Vertrages, wurde von den maßgeblichen Parteien bewusst gemieden. Die Diskussion wird dennoch unvermeidlich sein - und zwar lieber früher als später: Nur Aufklärung wirkt gegen die verklärenden Mythen von der angeblichen Freiheit nationaler Souveränität.