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"Ein absoluter Akt der Torheit"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Politologe Levy über Folgen einer Bodenoffensive der Israelis in Gaza und den Vormarsch der Isis im Nahen Osten.


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"Wiener Zeitung": Ist die aktuelle Krise in Israel und in Gaza ein Déjà-vu oder Ausdruck breiterer Turbulenzen im Mittleren Osten?

Daniel Levy: Größtenteils ist das Teil eines israelisch-palästinensischen Zyklus, der seinen eigenen Rhythmus hat. Aber natürlich befinden sich Israel und Gaza nicht auf einem anderen Planeten, sondern in dieser bestimmten Region. Teilweise ist das genau der Grund, warum die jetzige Krise etwas gefährlicher ist. Mindestens zwei regionale Entwicklungen sind bedrohlich: Einerseits ist eine Mediation für eine Feuerpause diesmal wohl schwieriger. Ägypten ist ein potenzieller Schlüssel-Mediator. Unter Präsident Mohammed Mursi spielte das Land 2012 eine effektive Mittlerrolle, mobilisierte auch andere arabische Minister, was einen deeskalierenden Effekt hatte. Heute ist eine ägyptische Vermittlung nicht völlig ausgeschlossen, aber es gibt weniger Vertrauen und mehr Feindseligkeit zwischen Kairo und der Hamas-Führung in Gaza. Und es gibt gar den Verdacht, dass Ägypten - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt - Israel in bestimmter Weise ermuntert, etwas zu tun.

Der zweite Punkt ist, dass die Palästinenser in keinem Vakuum leben. Die Gesellschaft ist noch nicht wirklich den radikaleren, sunnitisch-salafistisch-jihadistischen Strömungen erlegen, die etwa von Isis und anderen Gruppierungen in der Region repräsentiert werden. Dies ist aber eine reale Gefahr. Es gibt bereits radikalere Gruppierungen in Gaza, aber die Hamas konnte hier großteils den Deckel draufhalten. Wenn Israel bei der Schwächung der Hamas zu weit geht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Gruppierungen wie Isis Fuß fassen. Wenn israelische Sprecher sagen, Hamas sei wie Isis oder Boko Haram, wissen sie, dass das Unsinn ist. Und sie wissen, dass die Alternative in Wirklichkeit ein Abgleiten ins Chaos ist, ähnlich dem in Somalia oder dem Westirak. Das ist auch ein neuer Aspekt in der jetzigen Krise.

Noch stehen die Zeichen auf Eskalation. Erwarten Sie die angedrohte, umfangreiche israelische Bodenoffensive?

Eine massive Reinvasion und Re-Okkupation von Gaza wäre ein absoluter Akt der Torheit. Der Großteil der israelischen militärischen und politischen Führung weiß das. Damit eine Drohung funktioniert, muss sie echt aussehen - daher braucht man die Mobilisierung und so weiter. Das ist eher politisch als militärisch zu sehen. Es geht hauptsächlich darum, wie die Geschichte des Sieges aussieht, die Israels Premier Benjamin Netanyahu seiner Koalition und politischen Klasse erzählen kann, und um die Sieg-Geschichte, die Hamas seinem Elektorat erzählen kann. Und irgendwie muss man ein Einvernehmen finden, das beiden eine Geschichte gibt.

Wieso schweigt die arabische Welt weitgehend zur jetzigen Krise?

Weil momentan eine der definierenden Verwerfungslinien im Mittleren Osten ist, ob man für oder gegen die Muslimbruderschaft ist. Viele arabische Führer werden nicht für die Hamas eintreten. Die Hamas distanzierte sich einerseits in Syrien von Bashar al-Assad, andererseits hat sie ihren Verbündeten in Ägypten verloren. Und die Muslimbruderschaft befindet sich in vielen arabischen Ländern praktisch im Belagerungszustand. Man darf zudem nicht vergessen, dass Libyen einen Krieg mit sich selbst führt, genauso wie der Irak. Das Schweigen ist ein wirkliches Problem, denn wenn - ungleich zu 2012 - das israelische Kalkül ist, dass die arabische Welt das Vorgehen akzeptiert oder dass manche wollen, dass Israel mehr unternimmt, dann kann das noch hässlicher werden. Aber - so ist leider der Lauf - ein paar Tage und schreckliche Bilder mehr von Palästinensern, die in Gaza leiden, werden die Gleichung wohl ändern und die politischen Führer eher zwingen, eine Position einzunehmen.

Die Terrormiliz Isis versetzt die ganze Region in Aufruhr. Sehen Sie angesichts ihres Vormarschs schon mehr internationale Anstrengungen, die Syrien-Krise zu lösen?

Nicht wirklich. Auch wenn es nun ein größeres Bewusstsein gibt, die Bedrohung spürbar ist und sie zudem über Syrien hinausgeht, gibt es immer noch eine fundamentale Kluft zwischen zwei Lagern: Denen, die sagen, dass jeder Tag, an dem Assad an der Macht ist, noch mehr Fundamentalismus erzeugt. Und denen, die sagen, dass Assad zwar ein Hurensohn ist, aber er im Kampf gegen Isis wohl die beste Karte ist, auf die man setzen kann und die Alternative zu ihm noch schlimmer sein könnte. Das Unvermögen, diese Quadratur des Kreises zu lösen, besteht nach wie vor.

Und auch wenn darüber gesprochen wird, den moderaten Rebellen in Syrien mehr Unterstützung zur Verfügung zu stellen, sind in Wirklichkeit Teile der Ausrüstung, die moderaten Rebellen zukommen sollten, bereits an Isis gefallen. Das wird die westlichen Länder noch nervöser machen in der Frage, ob noch mehr Unterstützung an die moderate syrische Opposition gehen soll. Der Idealfall wäre freilich, dass nun konzertierte Anstrengungen zur Lösung der Syrien-Krise erfolgen, alle zusammenkommen und man mit dem Iran und Russland zusammenarbeitet. Aber es gibt auch Gründe dafür, dass dem nicht so ist - und manche davon haben nichts mit Syrien zu tun. Mit dem Iran ist gerade die Zeit sensibel wegen der Atomgespräche, mit Moskau wegen der Ukraine-Krise.

Wie sehen die Golfstaaten, die teils beschuldigt werden, Isis zu finanzieren, deren Vormarsch?

Ich glaube, es gibt echte Sorgen darüber, dass das alles nach hinten losgehen könnte. Denn: Wir waren an diesem Punkt ja schon einmal, vor allem Saudi-Arabien, als es Extremisten in Afghanistan unterstützte - und dann Anschläge im eigenen Land hatte. Heißt das nun, dass die Saudis die Lektion gelernt haben? Die Klagen der Sunniten (im Irak und in Syrien, wo sie sich unterdrückt sehen, Anm.) sind real. Aber ich vermute, es ist immer noch ein Problem sicherzustellen, dass es eine klare Unterscheidung gibt zwischen der Unterstützung der legitimen Opposition gegen Assad und den irakischen Premier Nuri al-Maliki einerseits und radikaler Gruppen andererseits, die man vielleicht nicht gutheißt, aber benutzen könnte, um sie zu schwächen.

Daniel Levy ist der Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika beim
European Council on Foreign Relations (ECFR) in London. Der
Politikwissenschafter hat auch mehrere Jahre als Berater für die
israelische Regierung gearbeitet.