)
Aus humanitärer Sicht hätte man bereits vor dem Giftgas-Angriff handeln müssen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. US-Präsident Barack Obama ist in den vergangenen Monaten in mehrfacher Weise unter Druck gekommen. Einerseits fordert der blutige Bürgerkrieg in Syrien immer mehr Opfer, andererseits pocht der republikanische Senator John McCain seit langem auf ein militärisches Eingreifen. Zudem hat Obama selbst unbedacht die Anwendung von chemischen Kampfstoffen als "rote Linie" für ein Einschreiten der USA bezeichnet. In den vergangenen Monaten war außerdem ein verstärkter Vormarsch der Truppen des syrischen Machthabers Bashar al-Assad zu beobachten.
Der neuerliche mutmaßliche Einsatz von chemischen Waffen schien nun eine Gelegenheit zu bieten, zwei Fliegen mit einem Schlag zu erledigen. Mit einem begrenzten Militärschlag könnte Obama, indem er seine Drohung wahr macht, einerseits sein Gesicht wahren, und anderseits könnten durch gezielte Schläge die militärischen Vorteile des Regimes gegenüber den Rebellen wieder etwas ausgeglichen werden. Das Argument mit den chemischen Waffen ist ein Anlass und nicht der Grund für einen Militäreinsatz. Deshalb haben die USA wie schon zuvor beim Irakkrieg 2003 kein Interesse daran, den Bericht der UNO-Inspektoren abzuwarten.
Es geht in Syrien, anders als in Libyen 2011, nicht darum, den Diktator zu stürzen und der militärisch unterlegenen Opposition zum Sieg zu verhelfen. Die syrische Opposition ist nicht nur zersplittert, sondern auch tief verfeindet - dies gilt sowohl für die verschiedenen Oppositionsplattformen, die sich im Ausland gebildet haben, als auch für die verschiedenen Rebellengruppen, die in Syrien gegen das Assad-Regime kämpfen. In weiten Teilen des Landes sind die staatlichen Institutionen zerfallen. In umkämpften Gebieten hat das Regime den öffentlichen Dienst eingefroren. Mehrere Fraktionen und Gruppen rivalisieren um Autorität beziehungsweise um Unterstützung aus dem Ausland. Einige öffentliche Funktionen wurden von lokalen Koordinationskomitees, Revolutionsräten beziehungsweise informellen Netzwerken übernommen. Neben inzwischen prominenten bewaffneten Gruppen wie den radikal-islamistischen Al-Nusra-Rebellen oder der der PKK nahestehenden PYD, die einen Großteil der kurdischen Gebiete im Nordosten des Landes kontrolliert, sind es lokale Milizen, die in einem Häuser- und Straßenkampf den Assad-Truppen gegenüberstehen und in den von ihnen kontrollierten Gebieten lokale Verwaltungsaufgaben übernehmen.
Drohendes Machtvakuum
Der Westen hat zwar durch die Förderung von sogenannten Militärräten, die sich aus Armeedeserteuren zusammensetzten, versucht, einheitliche Kommandostrukturen zu schaffen, sich einen Ansprechpartner aufzubauen und vor allem dem wachsenden Einfluss von jihadistischen Gruppen etwas entgegenzusetzen, aber diese Versuche sind gescheitert. Stattdessen kam es zu einer weiteren Fragmentierung. Aufseiten der Aufständischen gibt es keine Ansprechpartner und niemanden, der im Falle des Sturzes des Regimes die Kontrolle über das ganze Land errichten kann. Deshalb geht es nicht darum, der fragmentierten und unberechenbaren Opposition zum Sieg zu verhelfen, sondern zu verhindern, dass Assad gewinnt. Die Strategie zielt darauf ab, den Konflikt in Syrien so lange wie möglich austragen zu lassen.
Wenn es tatsächlich um die Menschenrechte ginge, hätte man vor diesem Giftgaseinsatz handeln müssen. Man spricht von mehr als 100.000 Toten und über 1,5 Millionen Flüchtlingen. Aus humanitärer Sicht macht es keinen Unterschied, ob Menschen durch Raketen oder Gas getötet werden. Der Umstand, dass die USA und ihre Verbündeten eine Intervention mit der Missachtung der Chemiewaffen- und der Genfer Konventionen begründen und gleichzeitig aber die UNO umgehen wollen, ist widersprüchlich.
Ein Beispiel für eine isolierte Intervention ohne nachhaltige Wirkung stellen die Bombenangriffe unter dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton auf den Sudan, Afghanistan und Irak im Jahr 1998 dar. Dass diese Angriffe nicht zum Sturz der Regime führten, wurde damals von den Gegnern der USA als Schwäche auslegt. Eine ähnliche Gefahr besteht in Syrien.
Heinz Gärtner ist wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip) und Experte für Sicherheitspolitik. Er ist Autor des Buches "Der amerikanische Präsident und die neue Welt" (Lit-Verlag 2012).
Cengiz Günay ist Senior Fellow am oiip und beschäftigt sich vor allem mit dem Nahen Osten und der Türkei. Er ist Autor des Buches "Die Geschichte der Türkei. Von den Anfängen der Moderne bis heute" (UTB Böhlau 2012).