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Ein Arbeiterbezirk kämpft gegen Mangel an Perspektiven

Von WZ-Korrespondentin Christine Zeiner

Europaarchiv
Beim Ausländeranteil rangiert Neukölln unter den Berliner Bezirken weit oben. Foto: reu

Ringen um Sprachkenntnisse und Ausbildung. | Sorge um Sicherheit an Schulen. | Berlin. Soziale Vielfalt - das ist es, was Berlins Schulen fehle. Eigentlich, findet der Soziologe Hartmut Häußermann, müsste man Schüler in Busse setzen und quer durch die Stadt fahren. Mehmets, Florians, Jessicas, Alevs, Toms und Hilals sollten miteinander lernen, um später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.


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Als Beispiel im negativen Sinn fungiert oft Neukölln. Im einstigen Arbeiterbezirk bezieht die Hälfte der Bewohner Hartz IV, das Langzeitarbeitslosengeld. 70 Prozent der Schüler sind hier von den Zuzahlungen für Bücher befreit. Teilweise gibt es an den Schulen 90 Prozent Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, 82 Prozent sind es im Durchschnitt bei den Schulanfängern in Nordneukölln. Häufig hätten diese Sprachprobleme, sagt Franziska Giffey, zuständig für Schule, Kultur und Bildung im Bezirksamt. Viele der Neuköllner mit Migrationshintergrund zählten "nicht unbedingt zu den Bildungsbürgern".

Trotz wachsender Beliebtheit bei Studenten und Künstlern bleibt Neukölln verschrien. Und der Ruf ist noch eine Spur schlechter geworden, seit den Debatten über "Deutschfeindlichkeit". Ausgelöst haben die Aufregung zwei Lehrer einer Schule in Kreuzberg. Immer mehr deutsche Kinder würden von türkisch- und arabischstämmigen Schülern gemobbt, schrieben sie in der Gewerkschaftszeitung.

Lehrer-Ruf um Hilfe

Schon kommt einem die Neuköllner Rütli-Schule in den Sinn: Vor vier Jahren hatte deren Rektorin einen Hilferuf an den Berliner Senat geschickt, der großen Wirbel auslöste: Einige Lehrer würden bewusst mit dem Handy in die Klasse gehen, um im Notfall Hilfe rufen zu können, schrieben sie. Und: "Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können?" In den meisten Familien seien die Schüler die Einzigen, die in der Früh aufstünden. Wie sei ihnen zu erklären, dass ein Abschluss wichtig sei? "Die Schüler sind vor allem damit beschäftigt, sich das neueste Handy zu organisieren, ihr Outfit so zu gestalten, dass sie dazugehören. Schule ist für sie auch Schauplatz und Machtkampf um Anerkennung."

Hat sich seither an den Neuköllner Schulen nichts getan? Doch, sagt Quartiersmanager Thomas Helfer und zählt Projektunterricht, Ganztagsbetreuung und Förderprogramme auf, was zu mehr Schulabschlüssen führe. Doch, sagt auch Stadträtin Giffey, 16 Schulen hätten einen Wachdienst angefordert. Das seien keine paramilitärische Einheiten. "Die sind höflich und achten darauf, dass nicht der große Bruder an die Schule kommt und die Sache vom kleinen Bruder regelt." Mobbing unter den Schülern gebe es freilich trotzdem. "Aber das bezieht sich nicht auf Deutsche allein. Hier geht es Minderheit gegen Mehrheit, Stärkere gegen Schwächere."

Ja, es gebe Jugendliche, die sich mit Messer und in größeren Gruppen stark fühlten, sagt Kazim Erdogan. Er ist Vorstand des Vereins "Aufbruch Neukölln". Hier gibt es eine Jugendgruppe, und auch Väter treffen einander einmal in der Woche, um über Erziehung, gesunde Ernährung, Ehrenmorde und Thilo Sarrazins Thesen zu sprechen. Sprachkenntnisse seien nur eine Antwort auf die Probleme, sagt Erdogan. Die anderen seien Bildung, Ausbildung, eine Zukunftsperspektive. Ebenso müsste mehr miteinander geredet werden: Deutsche und Migranten hätten kaum zueinander Kontakt.

"Für manche meiner Schüler ist Neukölln eine No-Go-Area", erzählt ein Lehrer, der im beschaulicheren Schöneberg Geschichte unterrichtet. "Ich wage aber zu bezweifeln, ob die Neukölln wirklich kennen." Dennoch schicken mittlerweile zahlreiche türkische Eltern, wie ihre deutschen Nachbarn, ihre Kinder in andere Berliner Bezirke zur Schule: Sie sollen einen Abschluss machen, um später einen guten Job zu bekommen. "Auch wir haben Schüler aus Neukölln", sagt der Geschichtelehrer. "Doch wenn auch die Ausländer, die integrativ wirken könnten, weggehen, ist das doppelt verschärfend für Neukölln."