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Ein besonderes Gespür für politische Korrektheit

Von Richard E. Schneider

Wissen

In seinem Privatleben sei das Jahrhundertgenie nicht stets korrekt gewesen, würde jüngst gelegentlich kritisiert. Doch in politischen Angelegenheiten besaß Albert Einstein, der mit seiner vor genau 100 Jahren entdeckten speziellen Relativitätstheorie das Weltbild Isaac Newtons revolutionierte, ein beachtliches Fingerspitzengefühl. Nach dem I. Weltkrieg war der Physik-Nobelpreisträger von 1921 eine vom Ausland stark umworbene Persönlichkeit. Sowohl Marie Curie (1867 - 1934), Entdeckerin neuer radioaktiver Elemente und erste Frau mit Nobelpreis (1903 für Physik, 1911 für Chemie), als auch der französische Theaterautor und Pazifist Romain Rolland (1866 - 1944) wünschten Einsteins Mitwirkung an ihren europäischen Friedens- und Kooperationsprojekten.


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Weil er nicht auf seine deutschen Brüder schießen wollte, emigrierte der Franzose Rolland 1914 in die neutrale Schweiz. Der große europäische Krieg, schrieb Rolland am 28. März 1915 an den Pazifisten Einstein in Berlin, sei "eine schreckliche Prüfung für uns alle", und forderte: "Später müssen wir europäischer, universeller werden!"

Einstein, Direktor am für ihn 1912 geschaffenen "Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik", empfand das mörderische Ringen um die Vorherrschaft in Europa als menschenunwürdig und erkannte hier bestenfalls einen Paradigmenwechsel "vom religiösen zum nationalen Fanatismus." Dass sich die europäischen Intellektuellen nach Kriegsbeginn 1914 nur noch im engen nationalen Rahmen äußerten und bewegten, erboste ihn: "Sogar die Wissenschaftler verhalten sich, wie wenn sie seit acht Monaten gehirnamputiert wären!"

Als der I. Weltkrieg mit seinen Millionen Toten zu Ende war, bemühte man sich allerorten, die tiefen Gräben wieder zuzuschütten. Es bildeten sich in Westeuropa zahlreiche neue übernationale Komitees und Aktionsbündnisse, die sich wieder verstärkt dem europäischen Gedanken und transnationalen Erbe zuwandten. Besonders aktiv waren die politischen Intellektuellen in Frankreich, wie zahlreiche an Marie Curie gerichteten Briefe bezeugen.

Doch konnte sich die polnisch-französische Wissenschaftlerin nicht entschließen, an der sozialistisch inspirierten Vereinigung "Clarté" des Pazifisten Henri Barbusse (1873 - 1935) mitzuwirken. Ebenso lehnte sie ihre Unterschrift unter das von zahlreichen Kriegsgegnern wie Bertrand Russell, Benedetto Croce, Stefan Zweig und Heinrich Mann unterzeichnete Manifest "Unabhängigkeitserklärung des Geistes" ab, den der Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland als europäischen Appell am 17. Juni 1919 initiierte. Noch bei Kriegsausbruch hatten sowohl Heinrich Mann als auch sein jüngerer Bruder Thomas öffentlich und eindeutig für die deutsche Sache Partei ergriffen. Marie Curie konnte sich ihrerseits nicht durchringen, den Ersten Weltkrieg en bloc zu verurteilen, weil er ihrer Heimat Polen Unabhängigkeit und Freiheit gebracht hatte.

Mutiger Schritt zur Unzeit

Schließlich fand Marie Curie, die zwar aus bürgerlichen, materiell jedoch bescheidenen Verhältnissen stammte, ein ihren inneren Neigungen entsprechendes politisches Betätigungsfeld. Bis zu ihrem frühen Tod 1935 engagierte sie sich in der "Kommission für kulturelle Zusammenarbeit" des Genfer Völkerbunds. Die Chemikerin und Physikerin nahm an Beratungen teil über das Statut des Wissenschaftlers, wissenschaftliches Eigentum, internationale Stipendien und Bibliografien. Es gelang ihr sogar, Albert Einstein, der immer noch das "Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik" in Berlin leitete, zu einer Mitarbeit in dieser frühen europäischen Kulturkommission zu bewegen.

Doch Einstein besaß ein sehr feines politisches Gespür dafür, was machbar und ethisch gerechtfertigt ist. Als Mediator und Vertreter Deutschland konnte und wollte er sich nicht verstehen, zumal Deutschland noch nicht zum Völkerbund gehörte. Obwohl er selbst zu den schärfsten Kritikern des deutschen Militarismus zählte und als Emigrant längst die Schweizer Staatsbürgerschaft besaß, ließ Einstein sich nicht blindlings politisch vereinnahmen:

Als er 1922 zu einem europäischen wissenschaftlichen Kongress nach Brüssel eingeladen wurde, zu dem seine Freunde Paul Langevin, Marie Curie und zahlreiche weitere Wissenschaftler von Rang kamen, sagte Einstein resolut ab: Er könne sich nicht an einem Ort aufhalten, dessen Zugang den deutschen Wissenschaftlern, seinen Kollegen, nur wegen derer Nationalität verboten sei. Würde er dieser Einladung Folge leisten, wäre dies Wasser auf die Mühlen des Nationalismus.

Zweifelsohne gehört diese Solidaritätsbezeugung Einsteins zu den großen Zeugnissen seiner stets um Neutralität und gegen Ausgrenzung bemühten politischen Vernunft. In Berlin wurde er zur gleichen Zeit bereits von Antisemiten angefeindet und so nahm Einstein hier, wie auch sonst, einfach zwischen allen Stühlen Platz. Er besaß eben ein feines Gespür für ein "höheres Menschsein", das niemand einfordern kann.