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Ein bewährtes Gesetzeswerk aus düsterer Zeit

Von Vizekanzler a. D. Clemens Jabloner

Clemens Jabloner über das B-VG als Verfassung des revolutionären Wandels.


Die österreichische Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 entstand zwischen Mai 1919 und dem 23. September 1920, zunächst in Vorarbeiten der Staatskanzlei, auf Länderkonferenzen und in Parteienverhandlungen, schließlich im Rahmen der "Konstituierenden Nationalversammlung". Den letzten Schliff erhielt das Werk innerhalb weniger Wochen im Unterausschuss des Verfassungsausschusses.

Die Bundesverfassung entstand in einer düsteren Zeit: Der Weltkrieg verloren, die Monarchie zerborsten, die Last der Toten, das Leid der Versehrten, die erbärmliche Gesundheit vieler Menschen - die Spanische Grippe gerade erst im Abklingen. Das alles in einem "Staat, den keiner wollte" und zuletzt sogar nach dem Bruch der Koalition zwischen den Christlich-Sozialen und den Sozialdemokraten. Doch immerhin gab es parlamentarische Routine und vor allem einen erstklassigen Rechtsstab - mit Hans Kelsen als dem princeps inter pares. Die österreichische Reichshälfte war ein in vielem moderner Rechtsstaat gewesen - mit einer hoch entwickelten, unabhängigen Gerichtsbarkeit und vorbildlichen Grund- und Freiheitsrechten. All das konnte übernommen und perfektioniert werden. Hinzu trat nun der Verfassungsgerichthof, innovativ ermächtigt, Bundes- und Landesgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen. Doch davon abgesehen, war das B-VG eine Verfassung des revolutionären Wandels: Das Kaiserhaus hatte es nicht vermocht, das Reich, wenn auch beschädigt, rechtzeitig aus dem Weltkrieg herauszuziehen, am Ende war es nur mehr ein Anhängsel Deutschlands. Schon deshalb konnte das kleine Österreich nur als Republik weiter bestehen. Doch das von vielen ersehnte endgültige Aufgehen im Deutschen Reich verwehrten die Siegermächte. Es waren die Länder, die den Staatsrest durchgetragen hatten, also galt es, einen Bundesstaat zu bilden, der ihrem Gewicht entsprach. Und die Demokratie - last but not least - wollte verwirklicht werden, durch den ausgebauten Gleichheitssatz, der vor allem das uneingeschränkte Frauenwahlrecht brachte.

In Geltung stand dieses B-VG gerade einmal 13 Jahre. Hätte unser B-VG, das auf der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 beruht, gleich lang gegolten, so nur bis 1958 - eine befremdliche Vorstellung. Das B-VG verdankt seine Langlebigkeit freilich in erster Linie dem erfolgreichen Wiederaufbau, der wirtschaftlichen Prosperität und dem sozialen Frieden. Die rechtstechnische Haltbarkeit des B-VG steht ohnedies außer Zweifel - die meinte wohl der Bundespräsident mit der "Eleganz" der Bundesverfassung.