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Es gibt beste Voraussetzungen für eine große Bildungsreform. Junge und erfahrene Politiker, engagierte Menschen in Schulen und unzähligen Bildungsinitiativen - und das gesamte Wissen über guten Unterricht aus 4000 Jahren auf jedem Smartphone. Also los!
Jedoch: "Es ist alles sehr kompliziert", sagte Bundeskanzler Fred Sinowatz am 31. Mai 1983 im Parlament. Was damals "kompliziert" war, ist heute schier unüberblickbar. Der EU-Beitritt, der Euro, tausende neue Gesetze, die Fachhochschulen, hunderte neue Studienrichtungen, eine extrem bunte Schülerschar, Nachmittagsbetreuung, Neue Mittelschule . . .
Die inflationäre Verwendung des Begriffes "Autonomie" verdeckt die Tatsache, dass wichtige Punkte in der Schulwirklichkeit autonomiebehindernd sein werden. Doch dies offenbart sich erst auf den dritten Blick. Die geplanten Bildungsdirektionen bezeichnen Experten als "Monster", die zu einer weiteren Unübersichtlichkeit der jetzt schon überblicksresistenten Strukturen führen werden - die laut internationaler Vergleichsstudie für ein Land mit 66 Millionen Einwohnern adäquat wären. Diese Hydra verhindert die volle Nutzung der bereits vorhandenen Möglichkeiten der Schulautonomie.
Das Aussuchen-"Dürfen" der Lehrer durch "autonome" Direktoren sieht keine Möglichkeit vor, fachlich nicht geeignetes Lehrpersonal zu verabschieden, was Generationen von Schülern schädigen wird. Und Schulcluster, die nicht alle Schulen - also Volksschulen, Neue Mittelschulen, AHS und BHS - umfassen, tragen den Namen Cluster zu Unrecht und dienen nicht dem Sichern des gesellschaftlichen Zusammenhaltes, was mehr denn je eine zentrale Funktion der Schule sein muss.
Die brennenden Probleme der Schule - doppelt so viel Gewalt wie im OECD-Schnitt, 40 Prozent lese-, rechen- oder schreibschwache Fünfzehnjährige, ein bis zur Unkenntlichkeit marginalisierter künstlerisch-handwerklicher Unterricht, aber teils geradezu naiv anmutende Heilserwartungen in eine totale Digitalisierung - sind zu bedrückend, als dass das Reformpaketchen in einer hastig adaptierten Form als fragwürdiger letzter Erfolg der aktuellen Bundesregierung gelten dürfte.
Die Pause, die die Neuwahl bringt, sollte genutzt werden, um das Reformpaket auf der Grundlage der rund 1500 im Parlament eingegangenen Stellungnahmen zu optimieren. Es gibt massiven Ergänzungsbedarf, denn aus weltweit gleichlautenden Untersuchungen weiß man heute, dass für das Gelingen von Schule zu rund 90 Prozent das verantwortlich ist, was die einzelne Lehrperson vor der Klasse tut, also der individuelle Unterricht. Und diesen sucht man im derzeitigen Bildungsreformpaket vergeblich.
Akzeptieren wir die Überblicksprobleme, vergessen wir Schuldzuweisungen und Aggressionen. Starten wir im Herbst mit der multidisziplinären Arbeit an einer auf der jetzigen aufbauenden, aber umfassend plangeleiteten Reform, die mit dem Föderalismus, dem Finanzausgleich, der Unterrichtskunst, der Aufwertung der den Bürgern am nächsten liegenden Ebene, den Gemeinden und den Schulbauten alle Gelingensfaktoren der Schule umfasst. Eine Reform, die bei den Kindern ankommt - und die mit Recht die Bezeichnung "Reform" trägt.
Ernst Smole
war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Herbert Moritz und Helmut Zilk. In der laufenden Legislaturperiode wurde er als Auskunftsperson in die Parlamentsausschüsse für Budget und Bildung berufen.