In Sandra Selimovics aktuellem Stück geht es um Familie, Rap und ein selbstbestimmtes Leben.
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Wien. Sonntag, Mittagszeit. Theaterhaus Dschungel am Museumsquartier. 18 Jugendliche betreten die Bühne. Der Innenhof eines fiktiven Wiener Gemeindebaus wird dargestellt. Einer wirft Bananen von seiner Terrasse (Anm.: Anspielung auf die rassistische Bananen-Attacke gegen Barcelonas Profi-Kicker Dani Alves). Einer kauft Drogen, die er sich dann auf der Sitzbank spritzt. Ein Mädchen sprayt Graffiti an die Wand. Zwei Burschen spielen Fußball. Zwei streiten. Manche schreien, andere fluchen. Und immer wieder hört man: "Redet Deutsch!"
Die Eingangsszene zu Sandra Selimovics neuem Theaterstück "It’s my life: family and crime" ist spannungsgeladen. Das Stück, das heute, Dienstag, im Rahmen der Integrationswoche uraufgeführt und von den Wiener Wortstätten produziert wird, thematisiert verbale, sexuelle und körperliche Gewalt in Gemeindebauten mit hohen Migrantenanteilen.
Die Idee dafür ist fast ein Jahr alt. Bereits Ende September 2013 vereinten sich die junge Regisseurin Selimovic, die 2012 das Stück "It’s my life: Caba die Chance" inszenierte, und Dramaturgin Marianne Strauhs, um ein Theaterstück mit und für Jugendliche zu entwickeln. Sie kontaktierten die HAK & HAS Schulen des BFI Wien und bekamen eine Zusage.
Für die 18 Mädchen und Burschen wurde der Workshop zu einem Freifach. In arbeitsintensiven wöchentlichen Sessions wurden die Szenen gemeinsam mit den Jugendlichen erstellt. "Wir haben am Anfang sehr viel improvisiert. Wir wollten wissen, wie das im echten Leben so ist", sagt Dramaturgin Strauhs. Also stellten sie Fragen wie zum Beispiel: "Wie ist das so, wenn du spät am Abend nach Hause gehst?"
Viel dreht sich in dem Stück auch um Mädchen, immerhin sind drei Viertel der Gruppe weiblich. Die Erlebnisse der Teenager und ihre Ideen wurden dann mit dem Konzept vereint, das sich Selimovic und Strauhs ausgedacht haben. Strauhs hatte dann die schwierige Aufgabe, aus dem ganzen Stoff ein rohes Konstrukt zu machen, sodass jeder der 18 beteiligen jungen Menschen auch eine signifikante Rolle bekam. Durch geschicktes Wortjonglieren ist ein beeindruckender Plot entstanden.
Es ist okay, einwenig egoistisch zu sein
Im archetypischen Gemeindebau sind Rassismus, Kriminalität, Arroganz und Hass keine Seltenheit, sondern Alltag. Es ist kein schöner Ort zum Leben. Mittendrin leben Pia und Rana. Pia wohnt mit ihrer allererziehenden Mutter zusammen, die sich mehr um ihre eigenen körperlichen Bedürfnisse als um den geistigen Zustand ihrer Tochter kümmert. Pia darf machen, was sie will. Rana hingegen kommt aus einer konservativ-muslimischen, patriarchalen Familie. Auch wenn die beiden nur zwei Stockwerke trennen, liegen Welten zwischen ihnen.
Eines Abends werden sie vom Hausmeister begrapscht und bedroht. Die Szene mit dem sexuellen Übergriff wird als Video auf die Wand projiziert. Sie wurde nicht von den Jugendlichen, sondern von erwachsenen professionellen Schauspielern nachgestellt. Die Mädchen finden niemanden zum Reden, ihre Mütter sind zu beschäftigt, Vertrauenspersonen glauben ihnen nicht. Und so werden aus den beiden Mädchen, die einander anfangs gar nicht mochten, Verbündete. Die Kontraste zwischen liberal und konservativ verschwinden, die beiden Mädchen finden zueinander.
Und dann kommt der Rap ins Spiel. "Musik spielt für Jugendliche eine sehr große Rolle", erklärt Selimovic. "Und Rap war immer schon ein Medium, um sich aufzuregen", sagt die Regisseurin. Ihre Wut verarbeiten die Mädchen in Versen. Rana, die im echten Leben Hadir Echrin heißt, ist eine von zwei rappende Hijabis im Stück. Sie lässt darin ihren Frust über ihr Leben aus.
Auch ihre fiktive Schwester Meera singt über die Freiheit, die sie sich aus einer arrangierten Ehe erhoffte, und darüber, dass sie bitter enttäuscht wurde. Die 19-jährige Matea Novak, die Pia spielt, liebt die Rap-Szenen. Sie ist ein Naturtalent. "Wir haben das Rappen nur zwei, vielleicht drei Mal geprobt", sagt sie. In ihrem Solo-Rap lässt sie Dampf ab und schimpft über den Hausmeister, aber auch ein wenig über die eigene Mutter. Sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand.
"Das Stück hat feministische Ansätze", meint Selimovic. Der sexuelle Übergriff ist nur ein Motiv, das verarbeitet wird. Episodenhaft werden Geschichten über Frauenunterdrückung und Sexismus erzählt. Die Botschaft ist, dass die Mädchen sich nicht alles gefallen lassen sollen. "Mädchen werden darauf programmiert, sich für andere aufzuopfern. Es ist aber okay, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und ein wenig egoistisch zu sein", ist die Regisseurin überzeugt.
"Mein Körper ist mein -ich entscheide"
Selimovic interessiert sich für eine Jugend, die nicht aus Akademikerfamilien stammt. Vor allem die Konflikte, mit denen sie zu kämpfen hat, reizen die Regisseurin. In ihrem Stück "Caba die Chance" (2012) ging es um Bildung als letzte Chance für ein besseres Leben. In ihrer aktuellen Arbeit geht es um Selbstbestimmung. "Es geht um Mädchen, die lernen, sich selbst zu behaupten und sich zu wehren", erklärt Dramaturgin Strauhs. "Mein Körper ist mein - ich entscheide", formuliert Selimovic die Botschaft, die sie vermitteln möchte. Es ist ihr ein Anliegen, strengen patriarchalen Erziehungsmethoden zu widersprechen. Da aber zwei der Mädels im Stück Kokain zu sich nehmen, ist es etwas fragwürdig, ob das wirklich zum "Mein Körper ist mein - ich entscheide"-Motto passt.
Bis zum Abend der Premiere im Dschungel Wien im Museumsquartier proben die Jugendlichen. "Das Schauspielen klappt perfekt. Nur die Umbauten müssen noch eingeübt werden", sagt Selimovic. Die jungen Schauspieler lernen, ihre Markierungen zu treffen - ähnlich wie ihre Figuren versuchen, ihre Markierungen im Leben zu treffen. "Erheb dich und zeige Mut", heißt es in einem Vers eines Rap-Lieds, das zum Schluss noch vorgetragen wird.