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Ein blinder Fleck in der Gesamtschuldebatte

Von Paul Reinbacher

Gastkommentare

Das eigentliche Problem wird meist ausgeklammert.


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Nachdem einige Rückmeldungen (vermutlich eher unbeabsichtigt) eine meiner hier und an anderer Stelle formulierten Vermutungen bestätigt haben - nämlich dass die Debatte über die Ganztagsschule vor allem eine sozial- und arbeitsmarktpolitische ist, die daher federführend von den Lobbys der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite geführt wird -, hat sich schließlich einer der wohl renommiertesten Bildungsforscher des Landes eingeschaltet.

Ferdinand Eder, emeritierter Universitätsprofessor aus Salzburg und langjähriger Herausgeber des Nationalen Bildungsberichts, kann vor dem Hintergrund seiner profunden Systemkenntnis und auf Basis umfangreicher empirischer Befunde stets aufs Neue überzeugend darlegen, dass weniger ein Ganztags- als vielmehr ein Gesamtschulsystem die geeignete gesellschaftspolitische Maßnahme wäre, um die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten im Bildungssystem auszugleichen.

Evidenzen und Entscheidungen

Einerseits stellt sich vor diesem Hintergrund erneut die leider wenig überraschende Frage, weshalb auch in diesem Fall die Bildungsforschung so wenig Gehör in Bildungspolitik und in Bildungsadministration findet - obwohl doch immer wieder betont wird, dass man Entscheidungen möglichst evidenzbasiert treffen möchte. Abgesehen von der trivialen Tatsache, dass aus empirischen Evidenzen keine eindeutigen Entscheidungen folgen, liegen wir wohl nicht ganz falsch, wenn wir einen Teil der Antwort in jenen vorrangig partei- und mikropolitisch orientierten, oftmals ideologisch imprägnierten Positionen suchen, die zu einer selektiven Interpretation von Informationen oder gar zu einer erfolgreichen Immunisierung gegenüber Fakten der Forschung führen.

Andererseits sollte man es außerdem gelernten Österreichern nicht verübeln, wenn sie Diskussionen über Reformen im Schulsystem zunächst einmal mit Skepsis begegnen. Neben der Implementierungsforschung hat nämlich die normale Alltagserfahrung zu oft gezeigt, dass die reale Umsetzung von Veränderungsvorhaben nicht annähernd an die angekündigten idealen Modelle heranreicht.

Dies liegt sowohl an den vielen Kompromissen und "österreichischen Lösungen" als auch daran, dass hinter dem Wunsch nach Qualitätsverbesserung immer wieder versteckte Einsparungen lauern (beispielsweise wenn mit dem Mantra der "Kostenneutralität" einem kurzfristig erhöhten Ressourcenbedarf von vornherein die Legitimationsgrundlage entzogen werden soll).

Vor allem aber überrascht, dass die Auseinandersetzung entlang vieler genuin bildungspolitischer Frontlinien wie jener zwischen pro und contra Gesamtschule über weite Strecken als sozial- und gesellschaftspolitische geführt wird. Auf der einen Seite dominieren strukturelle Fragen (etwa die Binnendifferenzierung des Schulsystems), auf der anderen Seite werden formelle Kriterien (wie die Ergebnisse bei Testungen oder Schulabschlüsse) diskutiert.

Die Diskussion über Inhalte wird an den Rand gedrängt

Mit anderen Worten: Im Zentrum stehen jene statistischen Zusammenhänge zwischen Schultypen als Elementen der Systemstruktur einerseits und individuellen Bildungsabschlüssen als Formalkriterium andererseits, um dann empirisch mangelnde Bildungsgerechtigkeit in Gestalt des hierzulande "außergewöhnlich starken Einflusses der sozialen Herkunft auf Bildungsergebnisse und Bildungslaufbahnen" (Zitat Ferdinand Eder) zu diagnostizieren.

An den Rand gedrängt wird dabei die in Bildungsfragen noch nicht ganz unerhebliche Diskussion über Inhalte. Eine eindimensionale Ausrichtung an kompetenzorientierten Indikatoren, wie sie von Bildungsstandards, Pisa-Ergebnissen und Co verkörpert werden, liegt zwar im internationalen Mainstream, erscheint aber aufgrund des darin zum Ausdruck kommenden Verständnisses von Schule samt ihrer Verkürzung auf die qualifikatorische Funktion wenig sinnvoll und zugleich einer konstruktiven Verständigung über die gemeinsame Schule wenig dienlich.

Anzunehmen ist, dass vor allem weite Teile des traditionellen allgemeinbildenden Schulwesens durch das Aufgehen in einem Gesamtschulsystem bereits in den unteren und nicht erst in den höheren Schulstufen auf wesentliche Alleinstellungsmerkmale werden verzichten müssen, zumal diese derzeit (aus guten Gründen und zeitgeistigen Forderungen nach lebenspraktischen Inhalten zum Trotz) "am Markt vorbei produzieren", wie es eine ehemalige Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort auf den Punkt gebracht hat.

Dass es sich dabei keineswegs nur um ein kulturpessimistisches Lamento angesichts des bevorstehenden Endes klassischer Gymnasien handelt, zeigt sich nicht nur an der kürzlich reformierten Lehrerausbildung und an der damit einhergehenden Vereinheitlichung von Lehrplänen der Sekundarstufe eins, sondern darüber hinaus in zumindest zweierlei Hinsicht.

Digitalisierung und Humanismus

Einerseits kann basale humanistische Bildung zwar grundsätzlich in allen Schultypen und in allen Schulsystemen gelingen, allerdings darf durchaus daran gezweifelt werden, ob sich unter österreichischen realen Bedingungen im Kontext der Gesamtschule ein solcher idealer Bildungsanspruch erfüllen lässt (oder ob die antiquiert anmutenden gymnasialen Schulformen in dieser Hinsicht bereits heute die letzten gallischen Dörfer sind).

Andererseits vermag ein aktuelles Beispiel aus Oberösterreich insofern zu überraschen, als an einem Linzer Gymnasium gerade ein neuer Schulzweig für Digitalisierung und Robotik gestartet hat, weil sich in der curricularen Entwicklungsgruppe unter anderem die Vertreter global agierender und konkurrierender Technologieunternehmen ausdrücklich gegen eine neue Vertiefungsrichtung im berufsbildenden, technischen Schulwesen zur eindimensionalen Forcierung von "hard skills" ausgesprochen und demgegenüber nach einem allgemeinbildenden, humanistischen Fundament gerufen haben.

Mit solchen kursorischen Hinweisen auf blinde Flecken in der inhaltlichen Dimension einer Gesamtschuldebatte können und sollen die vielfach (wenngleich weitgehend wirkungslos) diskutierten strukturellen Schwachstellen unseres derzeitigen Schulsystems in Bezug auf die vor allem sozial- und gesellschaftspolitisch relevanten Fragen der Bildungsungerechtigkeit keinesfalls relativiert, sondern - ganz im Gegenteil! - durch das Adressieren einer bisher in der sozial- und gesellschaftspolitischen Gemengelage meist nur implizit mitlaufenden Facette um einen explizit bildungspolitischen Aspekt angereichert werden.

Ausgehend von der Annahme, dass nicht allein die Form, sondern auch der Inhalt, nicht allein das ideale Modell, sondern auch die reale Umsetzung für den Erfolg von (Schul-)Bildung von Bedeutung sind, braucht es eine Verständigung darüber, wie eine - gegebenenfalls gemeinsame Schule - im "digitalen Humanismus" (Zitat Julian Nida-Rümelin) jenseits von Systemstrukturen und Formalkriterien inhaltlich ausgestaltet werden soll - womit die Bildungspolitik wieder einmal in einer ihrer bisweilen aus dem Blick geratenden Kernaufgaben gefordert wäre.