Zum Hauptinhalt springen

Ein blühendes Tagebuch

Von Petra Regensburger

Reflexionen

Paul Wiedmer und Jacqueline Dolder haben in der Nähe der italienischen Stadt Orvieto den Skulpturengarten "La Serpara" angelegt, der vielen Künstlern Raum für Fantasie und Grenzüberschreitung bietet.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Paul Wiedmers Skulptur "Feuerkorb".
© Foto: Anton Baur

Italienisches Hinterland. Ein verschlafenes Dorf. Eine neonbeleuchtete Bar. An der Theke ein Fremder. Neben ihm lehnt ein Mario oder Marcello. Man kommt ins Gespräch. Es gebe da ein altes Bauernhaus, das einen neuen Besitzer sucht. Der Fremde zögert nicht lang. Schon hüpft ein gebrechlicher Fiat über einen steinigen Waldweg. Der Himmel ist grau. Es regnet in Strömen. Ein altersschwaches Haus inmitten von durchweichten Feldern. Für den Fremden der schönste Ort der Welt. Hier will er sein.

So oder so ähnlich beginnen die meisten Auswanderergeschichten. Viele gehen gut aus. Manche besonders gut. Ist der ehemals Fremde ein Ausnahmekünstler wie der Schweizer Eisenplastiker Paul Wiedmer, kann so eine Fahrt im Fiat zur Initialzündung für ein außergewöhnliches Lebenswerk werden: ein Garten als Tagebuch des Lebens.

In den Hügeln nahe Orvieto, genau gesagt in Civitella d’Agliano, hat Wiedmer gemeinsam mit seiner Frau Jacqueline Dolder den Skulpturengarten "La Serpara" geschaffen. Das vier Hektar große Areal ist zugleich Freiluftgalerie und botanischer Garten. Beide Aspekte haben denselben Stellenwert und die Grenzen zwischen Kunst und gestalteter Natur verschwimmen fast unmerklich. Der Besucher spürt bei jedem Schritt, dass die Skulpturen am Ort entstanden und allein für diesen Ort gedacht und gemacht sind.

Künstlerische Freunde

Der Garten ist als ständig wachsende Ausstellung konzipiert. Paul Wiedmer lädt jedes Jahr zwei Künstlerfreunde aus aller Welt als "artists in residence" in die Serpara ein, die dann, wie er selbst, dort leben und arbeiten. Sie reisen erst ab, wenn das ideale Werk für den idealen Platz geschaffen ist. Ihre Skulpturen und Installationen bleiben als Zeugen freundschaftlicher Bindung fester Bestandteil des Garten-Tagebuchs. So erklärt sich auch das manchmal fast unheimliche Gefühl, das den Besucher beim Rundgang durch den Garten beschleicht: Hier passt alles zu allem. Trotzdem bleibt alles leicht und verspielt. Wiedmers Anliegen ist "eine harmonische Beziehung zwischen Pflanzen und Skulpturen, die ohne jeglichen Missbrauch untereinander auskommt".

Der Öffentlichkeit zugänglich ist der Skulpturengarten seit 1997. Erworben haben der Künstler und seine Frau das Anwesen schon 1982. Es bestand aus einem Stück Land mit einem kleinen Flüsschen und einem nackten Haus am Hang. Später wurde noch ein Bauernhaus im Tal dazugekauft, aus dem bald die Atelierhäuser entstanden.

Paul Wiedmer in seinem Garten.
© Foto: Anton Baur

Hier lebte anfangs noch der alte Pietro und baute Mais und Getreide an. Die Schafe grasten im Tal, die Schweine grunzten im Stall. Der wurde inzwischen in einen Kunstpavillon verwandelt. Doch bevor überhaupt an einen Skulpturenpark zu denken war, galt es das Gelände zu kultivieren. Wasserläufe, Wege, Treppen und Teiche wurden angelegt. Zur heimischen Vegetation gesellten sich immer mehr exotische Pflanzen, die Paul Wiedmer und Jacqueline Dolder bei Arbeitsaufenthalten in Skandinavien, China oder Namibia für sich entdeckt hatten. Neben Steineichen, Kastanienbäumen, Zypressen und Haselnusssträuchern kann der Besucher heute eine Seidenakazie oder eine chinesische Eiche bestaunen. Die Auswahl der Pflanzen folgt keiner landschaftsarchitektonischen Regel. Die Gartenlandschaft wächst mit der Biographie ihrer Gestalter und erzählt von persönlichen Vorlieben und Passionen. Wahrscheinlich fügt sich gerade deswegen alles zu einem großen harmonischen Ganzen. Duftschwaden von Flieder, Jasmin oder Gardenie wabern über die Wiesen. Sumpfzypresse und Araukarie bestechen mit bizarren Formen. Ein japanischer Ahornbaum fächert sich Luft zu. Das Bambuswäldchen rauscht im Wind. Alles hat seinen Platz. In der Ferne erahnt das geschulte Auge eine Buchsbaumhecke. Die grünen Büschel schreiben den Buchstaben H in ein strohgelbes Feld. Ist das Kunst? Ja, ein "Helikopterlandeplatz für sanfte Landungen", erklärt Jacqueline Dolder. Bald entdeckt man oben am Hügel den dazugehörigen Hangar von "Ingold Airlines", einer fiktiven Fluggesellschaft, die vom Schweizer Kunstprofessor Res Ingold ins Leben gerufen wurde.

Dolder lotst die Besucher mit entspannter Selbstverständlichkeit durch Feld und Wald. Ihre Nähe zu Kunst und Natur ist so unmittelbar, dass der Besucher sofort jede Berührungsangst verliert. Die Führungen durch den Garten übernehmen Paul Wiedmer oder seine Frau immer persönlich. Eine kurze Anmeldung genügt. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob Gruppen oder nur zwei Personen kommen. Wichtig ist den beiden einzig die Wertschätzung für einen Garten, "der sich nicht aufdrängt, sondern entdeckt werden will". Zu entdecken gibt es unendlich viel in der Serpara: Kurioses, Erhellendes, Doppeldeutiges. Der "Genius loci", der Schutzgeist des Gartens, scheint die Spielfreude der Künstler herausgekitzelt zu haben.

Der Bildhauer Bruno Wank ließ sich sofort von Dolders Begeisterung für den Bambus anstecken und hat einen meterlangen Bambushalm in Aluminium gegossen, der jetzt neben seinen Artgenossen in den Himmel ragt. Perfekt ist der künstliche Halm freilich nicht. Er ist von Löchern durchsiebt. Nur die Natur ist perfekt - nicht der Mensch. Nicht weniger poetisch begegnet der Kanadier John Greer der Faszination Bambus. Inmitten der Halme hat er einen blankpolierten Stein positioniert. Will der Besucher die winzige goldene Inschrift "Sayonara" entziffern, muss er sich notgedrungen verbeugen. Ein paar Meter weiter steigen, aus windschiefen Kaminen, die direkt aus dem Boden zu wachsen scheinen, tanzende Rauchschwaden auf. Hier entsinnt sich der Baseler Reini Rühlin der alten Kulturen, die immer noch unter der geschichtsträchtigen Erde brodeln. Den Überresten der modernen Zivilisation hat sich Ursula Stalder verschrieben. Die Schweizerin sammelt Alltagsmüll an den Stränden der Welt. Für La Serpara hat sie Treibgut aus dem tyrrhenischen und adriatischen Meer in einer baumhohen Stele in strenger Geometrie verarbeitet. "Steckenpferd" nennt sie diese Arbeit lapidar. Die Kanadierin Vanessa Paschakarnis hinterließ einen gehörnten Kopf, der am ehesten noch einem Elch ähnlich sieht. Sie nennt ihr Werk "Cavallo", also "Pferd".

Warum auch nicht? Warum sollte der italienische Fotograf und Kurzfilmer Werther Germondari in seiner Installation "Picchiopinocchio" nicht Pinocchiofiguren spechtgleich in den Bäumen picken lassen? Und warum sollte der bayerische Wahlfinne Albert Braun kein Fußballfeld im Skulpturengarten ausstecken und mitten im Wald ein Elfmeterschießen veranstalten? In der Serpara ist genug Platz für Fantasie und Grenzüberschreitung.

Zu schnell bewegen sollte man sich hier indes nicht. Überall lauern Radarfallen - im Wasser, auf der Erde, in der Luft. Die Blitzkästen sind eine Installation von Samuele Vesuvio, dem Sohn der Gartengründer. In Comic-Zeichnungen hat er sämtliche Geschwindigkeitsüberschreitungen in der Serpara erfasst. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Verkehrssünder Maulwürfe, Walrösser oder Eichhörnchen sind. Auf einer Anhöhe thront das erste mittelitalienische Comic-Museum. Untergebracht ist es in einem ausrangierten Wohnwagen, in dem sich der Schweizer M. S. Bastian ironisch-provokativ zwischen Kunst und Comic bewegt. Im saftigen Grün posieren hüftschwingend die Protagonistinnen einer Misswahl. Die Damen sind, lebensgroß in Holz geschnitzt, einem Foto aus den fünfziger Jahren entstiegen, das der Schweizer Severin Müller in die dritte Dimension befördert hat.

Severin Müller hat ein altes "Misswahl"-Foto in Holz nachgearbeitet.
© Foto: Anton Baur

Weiter unten im Tal hat auf großen Felsbrocken, umspült vom Rio Chiaro, ein Rasenmäher-Friedhof seinen Platz gefunden. Für den Künstler Wilhelm Koch ist die Installation die logische Konsequenz einer von ihm initiierten Kollektiv-Performance, des ersten italienischen Rasenmäher-Treffens. Ein paar Meter weiter hat der Schweizer Massimo de Giovanni musikalische Wasserräder verankert. Man hört den Italo-Hit "Nel blu dipinto di blu", "In Blau gemaltes Blau" - besser bekannt unter dem Titel "Volare". Bewacht wird das Flussbett von einer Feuerkröte und vom Drachen Eugen. Skulpturen, die Wiedmer im Einklang mit der Natur geschaffen hat. Wer nicht genau hinsieht, könnte die mit Efeu überwucherten Gebilde für einen Teil des Waldes halten. Kommt man den Ungeheuern zu nah, fangen sie an, Feuer zu speien.

Feuerplastiken

Eisen und Feuer - das ist Paul Wiedmer. Schon früh hat er sich mit flammenden Eisenkörben und Feuerhörnern einen Namen gemacht. Heute sind seine Skulpturen über den ganzen Erdball verteilt. In der Serpara hat er seine Werke denen der Freunde an die Seite gestellt - unaufdringliche Beschützer mit einer ungeheuren Präsenz: Feuerstelen, ein Feuerbaum, ein ganzer Feuerpalast. Aktiviert werden die Kunstwerke im Vorübergehen - durch fotoelektrische Zellen. Wiedmer, der in schon jungen Jahren mit anderen "Gartenbesitzern" wie Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle oder Daniel Spoerri zusammengearbeitet hat, wird in der Literatur gerne als Feuerzauberer oder Feuerflüsterer beschrieben. Begegnet man ihm zum ersten Mal, denkt man eher an einen Flussgott. Schlohweißes Haar reicht bis auf die Schultern seiner imposanten Erscheinung. Stoisch blickt er ins Tal und in seinen Augen ist schwer zu lesen. Eines spürt man aber unmittelbar: Da sitzt nicht nur ein Künstler, sondern auch ein "Kümmerer". Da sitzt einer, der anderen Raum gibt, damit alle gemeinsam wachsen.

Petra Regensburger, geboren in Ingolstadt, lebt als freie Journalistin für TV und Printmedien in Orvieto. Ihre Themen: historische Streifzüge, Kultur und Reise, Land und Leute in Italien.

La Serpara, I-01020 Civitella d’Agliano (VT)Tel./Fax: +39 0761 914071www.serpara.net