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Eine Erinnerung an den "Bloody Sunday" vom 30. Jänner 1972 und seine Vorgeschichte.
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Der 2. Februar 1972 war ein verregneter Tag in Derry, Nordirlands zweitgrößter Stadt. Dennoch waren Zehntausende zur St. Marys Cathedral in Creggan gekommen. Der Stadtteil Creggan liegt an einem Hügel gegenüber der historischen Stadtmauer. Nur wenige hundert Meter westlich liegt die Grenze zur Republik. In einem ehemaligen Sumpfgebiet zwischen Creggan und dem historischen Stadtzentrum befinden sich die Bogside und Brandywell. Hier mussten außerhalb der Stadtmauer ab der Neuzeit Derrys Katholiken hausen, da sie nicht innerhalb der Stadt leben durften. In den frühen 1970er Jahren war die Bogside ein katholischer Slum, einer der ärmsten Orte Europas.
Doch die Bogside war auch das Zentrum einer Bürgerrechtsbewegung. Diese forderte gleiches Wahlrecht, gleichen Zugang zu öffentlichem Wohnraum und Gleichberechtigung für katholische und protestantische Nordiren. Mit friedlichen Märschen versuchte die Bewegung auf sich aufmerksam zu machen. Am 30. Jänner wollte sie sich nochmals aufbäumen. Von Creggan aus sollte den Hügel hinab in das Stadtzentrum marschiert und eine Abschlusskundgebung vor dem Rathaus abgehalten werden.
Weniger als 50.000 Menschen lebten damals in Derry, doch über 10.000 waren an diesem sonnigen 30. Jänner gekommen, da sie daran glaubten, ihre Anliegen friedlich umsetzen zu können. Als sich der Demonstrationszug dem Stadtzentrum näherte, erschoss ein britisches Fallschirmjägerregiment 13 Teilnehmer, eine weitere Person starb Wochen später. Der Tag ging als "Blutsonntag von Derry" in die Geschichte ein.
Diskriminierung
Als die Toten beerdigt wurden, hatte sich die Sonne aus Derry verzogen. Das "Derry Journal" berichtete über das Begräbnis: "Selbst der Himmel weint, als Derry seine Toten zu Grabe trägt." Tausende marschierten an den Särgen vorbei. Einer von ihnen war der 17-jährige Michael Devine. Er wuchs in einem Armenlager auf. In den 1960er Jahren wurde seine Familie nach Creggan umgesiedelt. Wie viele seiner Freunde nahm er am Begräbnis teil: "Ich werde niemals vergessen, als ich in der Kapelle in Creggan auf die braunen Holzboxen gestarrt habe. Wir trauerten - und Irland trauerte mit uns. Dieser Anblick verdeutlichte mir mehr als alles andere, dass es keinen Frieden in Irland geben kann, solange es von Britannien beherrscht wird. Als ich da stand und auf die Särge blickte, entwickelte ich eine Überzeugung für die republikanische Sache, die ich seither nicht verloren habe."

Nur wenige Wochen später schloss sich Michael der Official IRA an, einer der beiden IRA-Fraktionen. Vier Jahre später war er Mitgründer der marxistischen Irischen Nationalen Befreiungsarmee (INLA), wurde wenig später festgenommen und im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Maze eingesperrt. Dort starb er wie neun andere Republikaner in einem vom IRA-Mitglied Bobby Sands angeführten Hungerstreik im Jahr 1981.
Auch Vincent Doherty wurde am Blutsonntag politisiert. Im Gespräch mit dem Autor erklärt er: "Der Blutsonntag war der Wendepunkt, der viele von uns in die republikanische Bewegung trieb, was einen direkten Einfluss auf die folgenden Ereignisse hatte, am offensichtlichsten waren der Kampf in den Gefängnissen und die Hungerstreiks in den H-Blocks und im Frauengefängnis Armagh." Der 30. Jänner 1972 markiert das Ende von Nordirlands 68er-Bewegung und den Beginn des Kriegs.
Nach dem irischen Unabhängigkeitskrieg war die Insel 1921 geteilt worden. Der Süden wurde in die Unabhängigkeit entlassen, während Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs blieb. Katholiken wurden von den britisch-unionistischen Gewerkschaften von besser bezahlten Jobs in der Industrie ferngehalten. Sie fanden keine Aufnahme in den öffentlichen Dienst, auch wurde ihnen der Zugang zu vielen Bildungseinrichtungen verwehrt und es entstanden katholische Elendsviertel.
Gestützt wurde das System von der Polizei, die sich nahezu ausnahmslos aus Protestanten zusammensetzte, und einer undemokratischen Wahlkreiseinteilung. Dadurch blieben Katholiken selbst in Derry, wo es eine katholische Bevölkerungsmehrheit gab, unterrepräsentiert, und Protestanten errangen immer eine Mehrheit im Stadtrat. Der sogenannte "Orange State" fußte auf politischer und sozialer Diskriminierung der katholischen Minderheit bei gleichzeitiger Verteidigung der Privilegien der protestantischen Bevölkerung.

Gegen diese Ungleichheit formierte sich eine Bürgerrechtsbewegung. Am 29. Jänner 1967 wurde im International Hotel in Belfast die Northern Irish Civil Rights Association (NICRA) gegründet. Es wurden fünf Forderungen formuliert: Erstens, die Verteidigung der Grundrechte aller Bürger; zweitens, für die Rechte des Einzelnen einzutreten; drittens, jeglichen Missbrauch von Macht öffentlich zu machen; viertens, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit; und fünftens, die Bevölkerung über ihre Rechte zu informieren.
Gewaltspirale
Im Sommer 1968 beschloss die Bürgerrechtsbewegung, beeinflusst von Martin Luther King in den USA, Protestmärsche zu organisieren. Am 14. August fand der erste Bürgerrechtsmarsch statt. Die Märsche wurden zunehmen von radikalen Loyalisten angegriffen, und so begann sich die Gewaltspirale zu drehen. Als im Sommer 1969 Loyalisten katholische Straßenzüge angriffen, Häuser anzündeten und die Einwohner vertrieben, wurde die britische Armee in die Provinz entsandt. Viele der britischen Soldaten waren zuvor in den Kolonien stationiert gewesen und wurden in Aden und Kenia zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt. So auch ein Fallschirmjägerregiment, das vom 9. bis zum 11. August 1971 im Belfaster Stadtteil Ballymurphy zehn unbewaffnete Zivilisten, darunter einen Priester, erschoss. Dasselbe Regiment wurde am 30. Jänner 1972 nach Derry entsandt.
Die Bürgerrechtsbewegung hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Zenit überschritten. Aufgrund der zunehmenden Gewalt verloren immer mehr Nordiren den Glauben an eine friedliche Durchsetzung ihrer Forderungen. Doch mit dem Marsch am 30. Jänner sollte nochmals ein starkes Zeichen der Bürgerrechtsbewegung gesetzt werden. Tatsächlich folgten über 10.000 Menschen dem Aufruf und versammelten sich in Creggan. Doch die britische Armee war angewiesen worden, die Demonstration nicht in das Stadtzentrum ziehen zu lassen. Als der Protestzug dennoch dorthin zog, stieß er daher auf eine Barrikade und wurde in die Rossville Street abgedrängt. Nach ein paar hundert Metern parkten die Organisatoren ihren Pritschenwagen, der als Bühne diente, und begannen die Abschlusskundgebung. Ein Teil der jugendlichen Teilnehmer wurde von den Armeebarrikaden provoziert und begann die Absperrung in der William Street mit Steinen zu bewerfen. Die Armee reagierte mit Tränengas.
Etwa 25 Minuten später eröffneten Fallschirmjäger mit Maschinengewehren aus einem verlassenen Gebäude in der William Street außerhalb der Sichtweite der Kundgebung das Feuer und verletzten den 15-jährigen Damien Donaghy und den 59-jährigen John Johnston. Johnston starb am 16. Juni an seinen Verletzungen. Nach den ersten Schüssen hatten sich die Randale an der Barrikade gelegt. Nahezu alle Demonstranten versammelten sich bei der Kundgebung in der Rossville Street. Daraufhin wurde um 16:07 Uhr das Fallschirmregiment angewiesen, sich in die William Street zu begeben, um die verbliebenen Randalierer zu verhaften.
Drei Minuten später begannen die Soldaten das Feuer auf Menschen in der Rossville Street zu eröffnen. Die Menschen flüchteten und es begann eine regelrechte Hasenjagd. Gegen 16:40 Uhr endete die Schießerei mit 13 Toten und weiteren 14 Verletzten. Nach Angaben der britischen Armee feuerten 21 Soldaten insgesamt 108 Schüsse ab. Nahezu alle Toten und Verwundeten wurden beim Weglaufen von hinten in den Rücken getroffen. Bei den Toten handelte es sich um: John Duddy, 17, Michael Kelly, 17, Hugh Gilmour, 17, William Nash, 19, John Young, 17, Michael McDaid, 20, Kevin McElhinney, 17, James Wray, 22, William McKinney, 26, Gerard McKinney, 35, Gerard Donaghy, 17, Patrick Doherty, 31, Bernard McGuigan, 41, und John Johnston, 59.

Der 13-jährige A. McGuinness stand neben seinem Freund, als dieser angeschossen wurde: "Ich stand etwa einen Meter weit von meinem Freund Damien Donaghy entfernt. Plötzlich fiel er zu Boden und Blut floss aus ihm heraus. Er war angeschossen worden. Er hat nichts getan. Er hat nicht einmal einen Stein geworfen. Er stand einfach da neben mir, als er im Kells Walk angeschossen wurde."
Bewaffneter Kampf
Im Unterschied zu den Kolonialmassakern in Aden und Kenia und dem Massaker in Ballymurphy ereignete sich der Blutsonntag in Derry vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Fernsehteams des BBC und des irischen Senders RTÉ waren anwesend und berichteten von den Ereignissen. Als am 2. Februar die Bevölkerung Dublins die Bilder der 13 Särge in den Nachrichten sah, entlud sich die Wut. Rund 30.000 Menschen marschierten zur britischen Botschaft und steckten diese in Brand.
Auch Josephine Hayden sah die Bilder von Derry in den britischen Abendnachrichten. Sie stammt aus Waterford im Süden Irlands und arbeitete damals als 24-Jährige auf der Kanalinsel Jersey. In einem Gespräch erzählt sie: "Als ich sah, was die Briten in Derry mit uns Iren machten, flog ich sofort zurück. Ich konnte nicht mehr in Jersey bleiben, ich wollte etwas machen und meinen Leuten helfen." Zurück in Irland, ging sie ins Dubliner Büro von Sinn Féin und schloss sich der republikanischen Bewegung an. 1995 wurde sie verhaftet und wegen Mitgliedschaft in der IRA verurteilt, da sie in Dublin von einer Polizeistreife aufgehalten wurde, als sie eine Bombe transportierte. Sie verbrachte mehrere Jahre im Frauengefängnis in Limerick.
Michael Devine, Vincent Doherty und Josephine Hayden gehören einer Generation von Iren an, die nach dem Blutsonntag den bewaffneten Kampf an der Seite der IRA als einzigen Ausweg ansah. Nach dem 30. Jänner 1972 schlossen sich mit ihnen Tausende den paramilitärischen Organisationen an.
Vor 50 Jahren schoss ein britisches Fallschirmjägerregiment die friedliche nordirische Bürgerrechtsbewegung nieder. Damit endete jede Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts. 1972 starben 479 Menschen und 4.876 wurden verletzt - es war das blutigste Jahr des Nordirlandkonflikts. Der Krieg dauerte noch weitere 25 Jahre und kostete weiteren 3.000 Menschen das Leben. Seine Folgen sind bis heute spürbar - 2021 gab es immer noch acht Bombenanschläge.
Dieter Reinisch ist Historiker am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der National University of Ireland in Galway. Demnächst erscheint von ihm "Terror: Eine Geschichte der politischen Gewalt" im Promedia Verlag.