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Ein Brennglas der Gesellschaft

Von Regina Polak

Gastkommentare

Die Wiener "Schulgespräche" zeigen, dass junge Menschen im Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt weitaus kompetenter sind als manche Erwachsene.


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Regina Polak ist Institutsleiterin und Assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Buchtipp: Christian Friesl/Julian Aichholzer/Sanja Hajdinjak/Sylvia Kritzinger (Hg.): "Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018" (Czernin Verlag 2019).
© Joseph Krpelan

Wie leben muslimische und nicht-muslimische Jugendliche im Schulalltag zusammen? Welche Rolle spielt der Islam in der Schule? Eine etwas andere Wirklichkeit als die von der Ex-Ombudsfrau für Werte- und Kulturfragen, Susanne Wiesinger, beschriebene kann man noch bis zum 2. Februar 2020 in den Videodokumentationen der Ausstellung "Schulgespräche: Junge Muslim*innen in Wien" im Volkskundemuseum sehen und hören (www.volkskundemuseum.at/schulgespraeche). Anders als im medialen und politischen Diskurs kommen dabei Musliminnen und Muslime selbst zu Wort und ermöglichen einen Einblick in die Vielfalt muslimischer Lebenswelten. Die Skizzierung der Missstände in österreichischen Schulen spiegeln nicht die gesamte Wirklichkeit wider. Dies sollten Journalisten und Politiker in den kommenden Wochen nicht vergessen, wenn das Halali auf "den Islam" geblasen wird.

In den 15 Kurzfilmen diskutieren Schüler, Lehrer sowie Direktor aus Wiener Gymnasien und einem islamischen Realgymnasium über das Kopftuch, den Ramadan, Geschlechterrollen, den islamischen Religionsunterricht oder interkonfessionelle Beziehungen. Deutlich wird dabei, wie sehr die Schule das Brennglas der Gesellschaft ist: Heiß diskutiert wird zum Beispiel die Frage, wie öffentlich oder privat Religion im säkularen Raum sein darf. Wie in der Österreichischen Wertestudie 2018 zeigen sich die Konfliktlinien nicht zwischen "den Christen" und "den Muslimen", sondern zwischen den unterschiedlichen Intensitäten, Auslegungen und Vorstellungen von Religion und deren öffentlicher Rolle.

Religion als Waffe des Protestes gegen soziale Ausgrenzung

Zugleich bestätigen die "Schulgespräche" empirische Befunde, denen zufolge junge Menschen im Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt weitaus kompetenter sind als jene Erwachsenen, die der Ansicht sind, die in einer pluralen, demokratischen Gesellschaft normalen und notwendigen Konflikte seien am besten mit Zwang, Ausgrenzung und Etablierung einer laizistischen Gesellschaft zu lösen. Bildung - auch religiöse Bildung - spielt dabei offenkundig eine Schlüsselrolle.

Im Vergleich zu Wiesingers Befund stellt sich eindringlich die Frage, ob die Konzentration der Probleme in Ballungszentren und insbesondere in bestimmten sozialen Milieus nicht vor allem eine Frage von Armut, Mangel an Teilhabe, Bildung und Zukunftsperspektiven ist. Es sieht aus, als gäbe es in unseren Gesellschaften mittlerweile eine Gruppe junger Menschen, die wissen, dass sie zu den Verachteten und Verlierern der Gesellschaft gehören. Sie wehren sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, unter anderem mit einer hoch problematischen Auslegung islamischer Traditionen. Der Mangel an religiöser Bildung verbindet sich dabei mit Folgeerscheinungen sozialer Exklusion und kultureller Stigmatisierung. Religion wird zur Waffe des Protestes gegen die Verweigerung gesellschaftlicher Anerkennung. Das ist dramatisch.

Notwendig wären jetzt interdisziplinäre Forschungen und multiperspektivische Recherchen, die um eine differenzierte Analyse und Gewichtung der Missstände ringen: Welche Rolle spielen Armut und Ausgrenzung? Wie steht es generell um Sprach- und Bildungsprobleme in den "bildungsfernen" Schichten der gesellschaftlichen Underdogs? Welche Rolle und welchen Anteil an den Problemen hat Religion tatsächlich? Islamische Theologen und Communities müssen dabei den Anteil der eigenen religiösen Traditionen ebenso reflektieren wie Lehrer über Grundkenntnisse eines theologisch reflektierten Islam verfügen müssen, um seinen Deformationen etwas entgegenhalten zu können. Politiker sollten sich - wie die Jungen Neos demnächst - die "Schulgespräche"-Ausstellung unbedingt anschauen. Dies wäre eine gute Möglichkeit, differenzierte Umgangsweisen mit der muslimischen Bevölkerung zu entwickeln.

Das eigene Urteil ausklammern, Argumente des Gegners suchen

Außerdem habe ich als Theologin noch einen Vorschlag, wie man Differenzierung fördern kann: In der jesuitischen Tradition gibt es eine geistliche Übung, die dazu anhält, in Konflikten das eigene Urteil vorerst einzuklammern und zu versuchen, das Argument des Gegners, sogar des "Feindes" zu suchen und zu retten. Bei dieser Übung lernt man, die Wirklichkeit aus der Sicht der Anderen zu verstehen. Diese Fähigkeit ist unverzichtbar, wenn man sich ernsthaft der "Wahrheit" nähern möchte und tatsächlich daran interessiert ist, gemeinsam und ohne Verlierer Konflikte zu lösen.

Die Wirklichkeit mit den Augen der (gegnerischen) Anderen sehen zu lernen, bedeutet weder, dass man Konflikte vermeiden noch die gegnerischen Urteile teilen muss. Wohl aber erweitert sich die Lösungskompetenz, weil man in Konflikten nicht mehr nur Selbstbestätigung der je eigenen Position sucht. Diese Übung gehört sicherlich zu den härtesten seelisch-geistigen Herausforderungen, aber sie ist Menschen zumutbar. Auch Politiker dürfen dies von ihren Wählern erwarten.

Eine differenzierte Sicht ist nicht zuletzt deshalb dringend notwendig, als demnächst wohl eine neue Welle an pauschalen Anfeindungen der muslimischen Bevölkerung auf uns zurollen wird. Die Missstände werden in einem solchen Klima nicht gelöst, sondern verschärfen die Konflikte. Denn hier wird ein "Kulturkampf" inszeniert, in dem die Verantwortung für Probleme allein der "fremden" Religion zugeschrieben wird, um sich weder mit sozioökonomischen und politischen Ursachen noch mit Religion auseinandersetzen zu müssen. Kulturkampf, Ressentiment und Repression jedenfalls werden einer demokratischen Gesellschaft, deren Qualitätsmerkmal der Umgang mit Minderheiten ist, nicht gerecht. Sie sind Kennzeichen politischer, spiritueller und letztlich menschlicher Unreife.•