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Ein Bruch als Befreiungsschlag

Von Walter Hämmerle

Politik
© Illustration: Dietmar Hollenstein

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Es ist ja nicht so, als ob es nicht noch Momente der guten alten Zeit gäbe. Anfang Dezember etwa. Da war die offizielle Republik für einmal mit sich im Reinen. Die ÖVP hatte zum 60er Reinhold Mitterlehners geladen - und für einen Abend rückten alle Probleme in den Hintergrund. Nicht nur, dass der einst rote Bundespräsident die Laudatio auf den schwarzen Vizekanzler hielt; vom Kanzler abwärts machte das gesamte rote Regierungsteam dem ÖVP-Obmann seine Aufwartung, Sozialpartner inklusive. Es menschelte zwischen Rot und Schwarz und man feierte nicht nur einen runden Geburtstag, sondern durchaus auch sich selbst.

Warum auch nicht, dachten sich wohl die Anwesenden, zumal es ja sonst keiner macht und die Vergangenheit schließlich alles andere als schlecht war. Es ist die unmittelbare Gegenwart und absehbare Zukunft, die verunsichern: 2016 wird die Arbeitslosigkeit wohl erstmals die Marke von 500.000 reißen. Beim Wachstum hinkt das Land seit Jahren den Besten hinterher. Und dann sind da noch die großen Krisen unserer Zeit: Flüchtlinge, Terrorismus, Klimawandel, Euro.

Die guten Nachrichten, die es daneben trotzdem gibt, haben gegen die Wucht des Negativen keine Chance. Die Republik ist auf Depression gepolt, und weit und breit ist nichts und niemand in Sicht, der das zu ändern vermöchte. Tiefenverunsichert sind nicht nur die Bürger, sondern auch die Politiker selbst. Darüber kann man sich wunderbar lustig machen, muss es aber nicht. Natürlich lassen sich die Krisen der Gegenwart zum Politikerversagen verniedlichen. Nach dieser Lesart würde es reichen, die alten Köpfe durch neue zu ersetzen, und schon ließen sich die Probleme bewältigen. Das ist nicht völlig ausgeschlossen - wie ja heutzutage praktisch nichts mehr völlig ausgeschlossen werden kann -, aber sehr wahrscheinlich ist es eben auch nicht. Die Probleme reichen weit tiefer in den politischen Körper des Landes hinein. Und dies vor allem aus einem Grund: Zu viel Neues ist entstanden, mit dem der bestehende Organismus der Republik immer weniger zu Rande kommt. Natürlich gibt es daneben Kontinuitäten zuhauf, strukturelle wie institutionelle, doch das Neue gewinnt zunehmend die Oberhand.

Kontinuitäten und Brüche: So haben Historiker die politische und soziale Geschichte Österreichs in den vergangenen 150 Jahren beschrieben und analysiert. Die Wurzeln der drei großen Parteien reichen in die 1880er Jahre zurück, Teile unserer Verfassung sind sogar noch älter; die Brüche waren zwei Weltkriege, zwei Diktaturen (obschon von unterschiedlicher Qualität) und zwei Republiken. Deren zweite kann mittlerweile auf eine höchst erfolgreiche Geschichte von sieben Jahrzehnten zurückblicken. Kein Wunder, dass die Rede von einem neuerlichen Bruch wenig populär ist, ja sogar auf offenen Widerstand stößt. So sehr haben wir uns als politische Gemeinschaft nach einer Erfolgsgeschichte gesehnt, dass diese nun, da sie endlich da ist, nicht quasi über Nacht über Bord werfen wollen.

In den Köpfen der Menschen ist das "Weiter so" deshalb allem Neuen hoffnungslos überlegen. Kontinuität heißt diese Sehnsucht. Ein neuerlicher "Bruch" würde die fortgesetzte Erfolgsgeschichte möglicherweise gefährden. Reformen, das schon, aber bitte im Rahmen des Bestehenden: Sozialpartnerschaft, Neutralität und große Koalition bilden die Dreifaltigkeit der Zweiten Republik.

Alle drei bestehen nach wie vor fort. Allerdings nicht mehr in ihrer einstigen Dominanz und Ausschließlichkeit. Die Sozialpartnerschaft der gesetzlichen Interessensvertretungen gibt nach wie vor den Spielraum vor, in dem sich SPÖ und ÖVP bewegen, aber die Kraft, den Sozialstaat einer grundlegenden Erneuerung zu unterziehen, hat sie nicht mehr. Die Neutralität ist irrelevant geworden, weshalb man wunderbar mit ihr leben kann und sie nicht einmal mehr abschaffen muss. Und alles, was man über die große Koalition von SPÖ und ÖVP sagen muss, ist, dass sie 2013 gerade noch 50,8 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten hat. Bezogen auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten vereinen Sozial- und Christdemokraten derzeit 37 Prozent der Stimmbürger hinter sich. In den Hochzeiten der Zweiten Republik waren es einst 90 und mehr Prozent. Eindringlicher lässt sich das Ausmaß an schleichender Veränderung nicht zusammenfassen. Und zu diesem innerösterreichischen Transformationsprozess kommen noch die europäische Integration und die globalen Verschiebungen hinzu. Kurz: Die Zweite Republik ist, vergleicht man sie mit ihren Anfängen, nicht mehr wiederzuerkennen.

Braucht Österreich ein neues politisches Kapitel?
Das wirft die Frage auf, ob es nicht an der Zeit ist, ein neues politisches Kapitel für Österreich aufzuschlagen: Ohne Krieg, Diktatur oder Revolution. Einfach so, durch die freie Willensentscheidung von Bürgern und Politik. Das jedoch ist hierzulande ein heikles Thema. Seit Jörg Haider Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts antrat, der rot-schwarzen Republik den Garaus zu machen und sich zum Herold einer Dritten Republik erklärte, ist das Thema parteipolitisch vergiftet. Und eindeutig negativ konnotiert.

Die Idee einer Dritten Republik ist seither zum Gegenentwurf der Zweiten verkommen: autoritär, antiparlamentarisch, antieuropäisch, ein Gemeinwesen, das die freien Bürger wieder zur unseligen Volksgemeinschaft herabstuft. Und dann gibt es auch noch die Assoziationskette zum Dritten Reich. Kein Wunder, dass die Zweite Republik in den Augen ihrer Erbauer und Vertreter als real existierender Gegenentwurf zu Haiders finsteren Umbauplänen erstrahlt. Und die noch dazu seit sieben Jahrzehnten die reale Möglichkeit von ununterbrochenem Wohlstand und Frieden demonstriert - ein aboslutes Novum in der jüngeren Geschichte dieses Landes. Verrückt muss deshalb sein, wer diese Kontinuität durch einen neuen Bruch zunichtemachen will.

Also heißt die Parole: Festhalten am Überkommenen, an den politischen Traditionen und Mechanismen der Zweiten Republik - ungeachtet der Tatsache, dass auch solche Traditionen einem natürlichen Lebenszyklus unterliegen. Das macht es in diesem Land so schwer, grundlegende Neuerungen anzudenken und umzusetzen. Dass solche notwendig wären, bestreiten nicht einmal die unmittelbar Betroffenen selbst.

Jeder weiß, dass die Zahnräder der Republik nicht mehr ineinander greifen. Die konkrete Umsetzung politischer Entscheidungen - von unten nach oben genauso wie von oben nach unten - in konkrete Politik funktioniert nicht mehr. Der politische Wille verirrt sich längst regelmäßig auf dem Weg zur Tat. Die Anschauungsbeispiele bevölkern seit Jahrzehnten die Debatten mit stupender Regelmäßigkeit: Dass Österreich in Summe überproportional viel Geld für Schulen und Gesundheit ausgibt, damit aber höchstens durchschnittliche Ergebnisse zu erzielen imstande ist. Ein Förderwesen, das alle Versuche es zu ändern, ins Nirwana laufen lässt, weil die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verschwimmen.

Um alles beim Alten zu belassen, braucht es nicht einmal ausgeprägten Willen zum Widerstand. Österreich hat mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ähnlich viele Politiker guten Willens wie andere Länder auch. Es ist das System, das zum Scheitern verführt. Die Zweite Republik ist zum Opfer ihres eigenen byzantinischen Zeremoniell geworden. Das ist der Hintergrund, vor dem eine Debatte über einen Bruch erfolgen sollte. Einen Bruch, der - anders als ein Weltkrieg, eine Revolution oder eine Diktatur - nicht alles Bestehende über den Haufen wirft und sodann die Stunde Null von Neuem einläutet. Aber doch eine Zäsur, die auch als solche wahrgenommen wird, als positiv formulierter Aufbruch, als Sprung nach vorne und nicht als Schritt zurück. Einer so formulierten Vision könnte es gelingen, das Land aus seiner zynischen Apathie zu reißen. Ansonsten droht ein Bruch, der ohne Ziel und Plan verläuft, einfach, weil er durch übermütigen Überdruss mit dem Bestehenden zustande kommt. Es ist meist das Scheitern der Regierenden, das Populisten an die Macht bringt.

Politik, so der Wiener Verfassungsdenker Manfried Welan, "ist der Staat im Fluss". In Österreich verhindert nicht nur die Realverfassung, sondern auch die Interpretation der Formalverfassung, dass Bewegung möglich wird. So spiegelt das bestehende strikte Verhältniswahlrecht zwar die Stärke der Anhängerschaft der Parteien wider; welche Regierung aber auf dieser Grundlage zustande kommt, darauf haben die Wähler so gut wie keinen Einfluss. Wer regiert und wie regiert wird, das zu entscheiden liegt in den Händen der Parteien.

Ein mehrheitsförderndes Wahlrecht, das der stimmenstärksten Partei das Regierugszepter in die Hand gibt, ist eine Möglichkeit, dies zu ändern. Im Rahmen des Verhältniswahlrechts wären vorab vereinbarte Parteienbündnisse eine weitere Alternative, wie sie in anderen Ländern praktiziert wird. Hier wissen die Wähler wenigstens im Vorhinein, welche Regierungskonstellation sie bekommen, wenn sie dieser oder jener Partei ihre Stimme geben. Nicht so in Österreich. Hier wachen die Politiker eifersüchtig darüber, dass das Ergebnis einer Wahl ja nicht ihren anschließenden Verhandlungsspielraum beschneidet, weshalb sie sich im Vorfeld alle Optionen offen lassen.

Der Einfluss der Wähler bleibt daher auf die Wahl einer Partei beschränkt, wie im Anschluss regiert wird, ist Verhandlungssache allfälliger Koalitionspartner. Nichts spricht gegen ein Regierungsbündnis zweier oder auch mehrerer
Parteien, solange halbwegs sichergestellt ist, dass die Protagonisten auch den Regierungskahn in die gleiche Richtung steuern. Die österreichische Variante des Verhältniswahlrechts zwingt jedoch ausgerechnet zwei Parteien verlässlich in eine gemeinsame Koalition, die selten kompatible Lösungen für anstehende Probleme haben.

In einer solchen Koalition ist jeder allein zu schwach, dem anderen seinen Willen aufzuzwingen, aber stark genug, die Prestigeprojekte des anderen zu verhindern. Bei diesem Stück fortgesetzter Selbstblockade ist der Souverän bloßer Zuschauer. Die Bürger sitzen im Parterre, den Parteien obliegt die Auswahl des Theaterstücks, sie verteilen die Rollen untereinander und sitzen auch noch im Regiesessel. Diese Arbeitsteilung passte schon nicht mehr ins späte 20. Jahrhundert, im beginnenden 21. Jahrhundert ist sie nur noch daneben.

Woran die Koalition zerbrach
"Ein Hauch von Endzeitstimmung weht durch die Alpenrepublik", schrieb "Der Spiegel" im Frühling 1995. Damals drohte die große Koalition mit Franz Vranitzky und Erhard Busek an der Erstellung eines Budgets und den Folgen einer geradezu grotesken rot-schwarzen Schmiergeldaffäre im Rüstungsbereich zu scheitern. Es fehle die Kraft zu einschneidenden Reformen, konstatierte das deutsche Wochenmagazin und meinte weiter: "Zerbricht die Regierung, könnte das auch das Ende der Zweiten Republik bedeuten", denn mit Jörg Haider stehe der "lachende Erbe" schon bereit.

Nun, damals ist die Regierung tatsächlich zerbrochen - nach nur wenigen Monaten im Amt. Das letzte große Projekt der Zweiten Republik, der Betritt zur Europäischen Union, war geschafft, die Gemeinsamkeiten damit aufgebraucht. Noch im Dezember 1995 kam es zu Neuwahlen. Die Zweite Republik hat auch das überlebt. Den Parteien fehlt nicht nur die Kraft für inhaltliche Befreiungsschläge, sondern auch für einen Systemwandel. Die Zweite Republik und ihre Parteien: Beide Seiten wachen eifersüchtig und ohnmächtig zugleich übereinander, auf dass keiner aus den Fesseln ausbricht, die beide binden. Eine dysfunktionale Gemeinschaft, die jedem alle Freiheit nimmt - und damit auch die Chance, sich selbst neu zu erfinden.

An dieser fortgesetzten Erstarrung trägt auch die hiesige Interpretation des Bundespräsidentenamts einen Teil an Mitverantwortung. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der jeweilige Hausherr in der Hofburg als Hüter der bestehenden Verhältnisse verstanden. Dabei spielte praktisch keine Rolle, ob diese bestehenden Verhältnisse auch Bewahrung verdient haben. Nur ja kein Bruch unserer Erfolgsgeschichte, lautete das Motto.

Das Beharren auf "stabilen Regierungsmehrheiten" etwa hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich in Österreich - im Unterschied zu anderen europäischen Staaten mit Verhältniswahlrecht - keine Kultur von Minderheitsregierungen entwickeln konnte. Dieses Amtsverständnis als Bewahrer und Hüter des Bestehenden ist natürlich eine verfassungskonforme und legitime Rolleninterpretation für den Bundespräsidenten. Allerdings ist sie keineswegs die einzig mögliche Variante. Die Verfassung würde durchaus auch eine aktivere Rolle der Hofburg im Verhältnis zwischen Parlament, Regierung und Bürgern hergeben; immerhin verfügt der Bundespräsident als einziges Verfassungsorgan über eine direktdemokratische Legitimation durch den Souverän. Doch hierzulande begnügt sich das Staatsoberhaupt - zumindest bisher - seit drei Jahrzehnten mit der Rolle als Schutzwall gegen die Freiheitlichen. Tatsächlich gibt es viele gute Gründe, die gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ sprechen. Die Frage ist nur, ob dies zu den Kernaufgaben eines Staatsoberhaupts zählt oder zählen sollte.

Das strikt proportionale Wahlrecht, ein auf Bewahren des Bestehenden ausgerichtetes Bundespräsidentenamt, die ebenfalls strukturkonservative Sozialpartnerschaft sowie das mit ihr verbundene System der Klientelbetreuung und schließlich ein auf Machterhalt und Ineffizienz statt Bürgernähe und Effizienz ausgerichteter Föderalismus: Es ist diese geballte Kombination, welche verhindert, dass die Zweite Republik mit den politischen Entwicklungen in ihrem Inneren und um sie herum Schritt zu halten vermag. Und wer daran zu rütteln wagt, wird mit Jörg Haiders illiberaler Dystopie von einer Dritten Republik in einen Topf geworfen. Wem dies widerfährt, dessen Argumente sind im hiesigen politischen Diskurs diskreditiert. Dabei gibt es einen Apologeten der Dritten Republik mit tadelloser Reputation.

Fritz Molden, erst Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten und dann einer der Wegbegleiter Österreichs in die Zweite Republik, mahnte 2007 die Dritte Republik ein. Damals fand gerade erst das schwarz-blaue Experiment sein Ende und die rot-schwarze große Koalition feierte ein allseits begrüßtes Comeback. Molden war einer der wenigen, die nicht in die allgemeine Erleichterung einstimmen wollten. Der Glaube an die Erneuerungskraft der Zweiten Republik war dem alten Mann nachhaltig abhandengekommen.

Mehr als zwei Jahrzehnte zuvor, 1995, klammerten sich die Protagonisten der verhinderten Konsensdemokratie noch an den letzten Strohhalm namens Hoffnung. Der damals eben erst zum Wiener Bürgermeister aufgestiegene Michael Häupl empfahl den streitenden Regierungsparteien ein probates Rettungsrezept für ihre große Koalition: Die verantwortlichen Politiker sollten, so der noch jugendliche Bürgermeister, doch einfach einmal "anständig miteinander trinken gehen, dann spricht es sich leichter". Scheinbar mächtige Landeskaiser, die mit guten Ratschlägen um sich schlagen: Auch daran hat sich bis heute nichts geändert.

Nun, geholfen hat Häupls Rat der Zweiten Republik bisher nicht. Vielleicht sollte man also doch auf Fritz Molden und dessen Idee von der Dritten Republik zurückgreifen. Dahinter steckt nämlich kein perfider Plan, die Populisten an die Macht zu bringen, sondern ganz im Gegenteil, den Vernünftigen eine politische Überlebenschance zu schaffen.

In Österreich verirrt sich der politische Wille mittlerweile regelmäßig auf seinem Weg zur Tat. Höchste Zeit, die Idee der Dritten Republik aus Haiders Fängen zu befreien.