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Ein chinesisches Jahrhundert?

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas ist ebenso atemberaubend wie die politische und soziale Stabilität dieses Riesen-Reiches zerbrechlich.


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"Herzlich willkommen im chinesischen Jahrhundert", steht auf einem Display am Eingang eines Anlageunternehmens in Shanghai. Sino-Century ist der Name der Firma, gleichzeitig aber auch eine gute Beschreibung für den Aufstieg Chinas, das die nächsten 100 Jahre beherrschen könnte.

Als Besucher aus den USA drängten sich mir daher zwangsläufig einige Fragen auf: Wie würde so ein chinesisches Jahrhundert aussehen - für China und die Welt? Ist das undurchsichtige und autokratische System den wirtschaftlichen Kräften gewachsen, die es entfesselt hat, oder tickt unter all dem schillernden Aufblühen eine Zeitbombe? Und steuert das aufsteigende China auf eine Kollision mit den USA zu, die sich instinktiv als führende Weltmacht sehen?

Diese Betrachtungen beschäftigen mich nach einer Woche China mehr als vor meiner Reise. Der neue Reichtum der Küstenstädte ist phänomenal, aber Chinas politische Zerbrechlichkeit ist ebenso offensichtlich. Besonders deutlich wird die Unsicherheit über die Zukunft unter den Mitgliedern der Elite, die im Ausland investieren und ausländische Pässe haben.

Dieses neue China ist großspurig und scheu zugleich. Es stürmt voran und sieht sich dabei ängstlich um. Seine offiziellen Vertreter hören nicht auf, uns daran zu erinnern, wie arm das Land ist, während sie mit Erfolgen prahlen. Immer aggressiver wird mit den Nachbarn umgegangen und gleichzeitig betont, dass man sich keine Feinde machen will. Deutlich wird diese Ambivalenz auch in der Meinung der Chinesen über die USA, die ein begehrtes Ziel für Studenten und Touristen sind. Laut dem chinesischen Meinungsforscher Victor Yuan waren die USA aber in den letzten zehn Jahren in der Liste der gefährlichsten Feinde Chinas bis auf einmal immer ganz obenauf.

Chinas Wohlstand und seine Grenzen, dieses Thema taucht regelmäßig auch in den Gesprächen des "Committee of 100" auf, einer Gruppe von Amerikanern mit chinesischem Migrationshintergrund. Einer von ihnen schwärmt von den utilitaristischen Tugenden des chinesischen Systems, das er aber auch als seelenlos brandmarkt. Ein anderer meint, dass eine Krise der Legitimität soziale Unruhen oder einen Krieg auslösen könnte. Und ein Student beklagt Chinas Mangel an Vertrauen. Ihn beunruhigt, dass die Menschen heute nur noch ans Geld glauben.

Das heikelste Problem ist aber die Aussicht auf eine chinesisch-amerikanische Konfrontation. Alfred Thayer Mahan, der US-Seemacht-Apostel des 19. Jahrhunderts, steht zwar beim chinesischen Militär hoch im Kurs, Peking ist jedoch mehr auf künftige Bereiche der Kriegsführung ausgerichtet, auf Space (Weltraum) und Cyberspace.

Shen Dingli, ein prominenter Militäranalytiker an der Fudan Universität in Shanghai, hält Mahans Theorien für altmodisch. China müsse in den Weltraum investieren, sagt er: Mit einem Weltraumlaser könne man jede Flotte versenken. Also müsse China, statt mit den USA um die Vormacht bei Schiffen und Tankern zu streiten, an höher entwickelten Waffen arbeiten, die andere Systeme außer Kraft setzen.

Eine Woche China hat mich auf Folgendes gebracht: Die USA sind an Chinas Aufstieg beteiligt. Das heißt, auch wenn es Chinas Führung nicht gern hört, das Land zu mehr Stabilität zu drängen, die nur aus einem demokratischeren, weniger paranoiden System entstehen kann. Die Alternative wäre ein anarchistischer Absturz, über den keiner spricht, den aber alle fürchten.

Übersetzung: Redaktion Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post". Originalfassung