Architektur steht in einem gespannten Verhältnis zu den Bedürfnissen ihrer Benutzer. Im Optimalfall schafft sie den Einklang mit der angestrebten persönlichen inneren Zufriedenheit.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der junge Architekt hatte allen Grund zum Jubeln: 51 Siedlungshäuser sollten in der Nähe von Bordeaux nach seinen Plänen errichtet werden! Man schrieb das Jahr 1923, der Auftraggeber war der Zuckerindustrielle Henry Frugès, der in Pessac seinen Arbeitern fabriksnahe Unterkünfte bieten wollte. Der Mann, der dies alles umsetzen sollte, war ein Schweizer, der einige Jahre zuvor nach Frankreich übersiedelt war und sich Le Corbusier nannte. Bislang war er vor allem dadurch bekannt geworden, dass er ganze Stadtteile von Paris in die Luft jagen und an deren Stelle einen riesigen Park anlegen wollte, auf dem 60-stöckige Wolkenkratzer für 50.000 Menschen errichtet werden sollten. Das Großprojekt wurde, wie wir wissen, nie umgesetzt. Wohl aber die Siedlung in Pessac, in die 1929 die ersten Bewohner einzogen. Sie bestand aus einer Serie einfacher Häuser mit Flachdächern und kahlen Wänden, in die in sachlicher Geometrie Türen und Fenster eingepasst waren. Le Corbusier war stolz auf seine mit dem Schnellbaustoff Beton errichteten Wohnquader, deren konsequente Schmucklosigkeit sich fortsetzte bis zu den Zimmerdecken, von denen nackte Glühbirnen baumelten. Es waren dies typische Häuser der Moderne, wie sie auch das Bauhaus in Deutschland, der Werkbund in Wien und De Stijl in den Niederlanden errichteten. Für sie stellte die industrielle Produktion das Vorbild für die zeitgemäße Errichtung von Immobilien dar. Rücksichtnahmen auf individuelle Bedürfnisse waren für den Fertigungsprozess hemmend und Dekorationen etwas für sentimentale Romantiker. Die neue Zeit sah sich den rechten Winkeln verpflichtet.
Doch die Arbeiter, die mit ihren Familien nun in Pessac einzogen, hatten eine ganz andere Vorstellung davon, was schön war. Sie, die den ganzen Tag in den trostlosen Betonhallen der Fabrik zubrachten, verspürten abends, wenn sie müde und abgeschlagen am Esstisch saßen, keine allzu große Sehnsucht nach der Ästhetik der modernen Industrie, von der ein Architekt meinte, sie auf ihre Wohnzellen übertragen zu müssen. Also gingen sie daran, die als unbehaglich empfundenen Unterkünfte entsprechend ihren persönlichen Bedürfnissen abzuändern. Sie malten die Wände aus, brachten Fensterläden an und bauten Spitzdächer auf. Am Wochenende erholten sie sich in ihren nach eigenen Vorstellungen angelegten Vorgärten, und wohl so mancher erinnerte sich wehmütig an sein altes Häuschen in der Provinz, das er verlassen musste, um mit der Arbeit bei Frugès seine Familie zu ernähren.
Ordnung
Die Bewohner von Pessac hatten ohne Rücksicht auf die visionären Ideen des Architekten intuitiv das umgesetzt, wovon der Philosoph Ernst Bloch einmal sagen wird: "Architektur ist ein Produktionsversuch menschlicher Heimat." Es ist zu wenig, wenn ein Haus uns vor Hitze, Kälte, Regen, Räubern und neugierigen Blicken schützt, genügend Licht und Sonne hereinlässt und über geeignete Wohnbereiche für Kochen, Arbeiten und das Privatleben verfügt, wie das Le Corbusier für ausreichend hielt. Architektur ist immer mehr als nur Funktion, sie sagt immer etwas über den aus, der ein Gebäude erbauen lässt, über seine Träume und Wünsche, Bedürfnisse der höheren Art. Ein Gebäude, so sah es der britische Kunsthistoriker und Sozialphilosoph John Ruskin (1819 – 1900), "spricht" zu uns, es sagt uns, was wir wichtig finden und woran wir gemahnt werden wollen. Architektur spielt mit Assoziationen und setzt Materialen, Ornamente, Zitate und Perspektiven so ein, dass sie in uns Erinnerungen evozieren und Andeutungen verstehen lassen: ein mit unbehandelten Dielen ausgelegtes Zimmer, das Rustikalität verströmt; transparente Glasfassaden, die das Wesen der Demokratie symbolisieren; ausladend horizontal angelegte Gebäude, die das Gefühl von Ruhe und Standfestigkeit imaginieren; hoch aufragende Wolkenkratzer, deren stolze Erhabenheit man nicht nur sehen, sondern auch empfinden kann.
Ruskin war aber auch ein scharfer Gegner der architektonischen Originalität. In einer Zeit, in der man die Architekten für die Einzigartigkeit ihrer Schöpfungen lobte und den Bau eines Verwaltungsgebäudes in bekanntem Stil als verachtenswert empfand, kritisierte Ruskin das Verschwinden der visuellen Harmonie. Radikal forderte er, das Bauwesen einer einzigen Schule zu unterwerfen, damit "die Architektur nicht jedes Mal aufs Neue erfunden werden müsse, wenn wir ein Armenhaus oder eine Pfarrkirche errichten". Diesem Wunsch nach optischer Ausgewogenheit versuchen heute Bauordnungen Rechnung zu tragen. So sind etwa in bestimmten Gebieten Amsterdams die Außenmaße der Reihenhäuser auf den Dezimeter genormt, und auch hierzulande gibt es beispielsweise hinsichtlich Bauhöhe und Farbgebung ziemlich klare Vorgaben.
Ordnung ist eine der Grundtugenden, die ein Gebäude aufweisen müsse, schreibt der in London lebende Schweizer Philosoph Alain de Botton in "Glück und Architektur". Ordnung vermittelt das Gefühl von Sicherheit, schafft Orientierung und bewahrt uns in der Regel vor unangenehmen Überraschungen, was auch der Grund dafür sein mag, dass wir geschlossene Häuserfronten lieben. Die Ordnung ist aber auch der Triumph des Menschen über die Natur. Das Regulativ gebietet dem Urwüchsigen und Zersetzenden Einhalt. Folgerichtig erfreut uns architektonische Ordnung vor allem dann, wenn sie mit Komplexität einhergeht, "wenn wir merken, dass sie eine Vielzahl von Elementen bändigt – dass Fenster, Türen und andere Details in ein Schema verwoben wurden, dem es gelingt, zugleich vertrackt und regelmäßig zu sein". Wie etwa die Fassadengestaltung des Dogenpalasts von Venedig, die eine gewisse Regelmäßigkeit, aber keine schlichte Wiederholung aufweist.
Wir schätzen die Eleganz, die sich vom Protz unterscheidet, bewundern die Balance zwischen Alt und Neu sowie das Zusammenspiel verschiedener Baustoffe und nehmen eher emotional denn bewusst wahr, wenn ein Gebäude in sich stimmig gestaltet ist und sich harmonisch in seine Umgebung einfügt. Im Idealfall zeigt es einen kulturellen Bezug zu seinem Standort und weist regionale Besonderheiten auf.
Die Selbsterkenntnis
Das wichtigste Kriterium aber, folgt man de Botton, scheint die Selbsterkenntnis in der Architektur zu sein. Sie beginnt, wenn wir vor der Errichtung eines Gebäudes – und sei es das Eigenheim – unsere Bedürfnisse und Anforderungen definieren, diese in Form eines Planes zu Papier bringen und nach behördlicher Genehmigung auf das Anrücken der ersten Baumaschinen und Arbeiter warten. Der Bau eines jeden Gebäudes hat den Widerstand gegen die Nutzung einer Brachfläche zu überwinden. Erst nach und nach, meist eine ganze Weile, nachdem es errichtet worden ist, findet es die Akzeptanz der Anrainer und – bei größeren Ensembles – der Öffentlichkeit. Das ist schwer genug. Ist zu hoffen, dass die architektonische Gestaltung derart gelungen ist, dass das Gebäude den Anforderungen entspricht oder der Eigentümer – wenn wir beim Eigenheim bleiben – es als sein Zuhause angenommen hat. Sich in den eigenen vier Wänden wohlzufühlen, hat viel damit zu tun, in welchem Ausmaß es deren Gestaltung erlaubt, die architektonische Vorgabe und die individuell gewählte Ausstattung mit der angestrebten eigenen inneren Zufriedenheit in Einklang zu bringen. Wir platzieren Möbel, die bequem, luxuriös oder trendy sind. Umgeben uns mit sonstigem Inventar, Nützlichem, Unnotwendigem und Ausschmückungen jedweder Art, die wir für bedeutsam halten. Das Heim gestattet uns jene Privatheit, die es uns ermöglicht, Kontakt mit dem wahren Selbst aufzunehmen. Manchmal ist das Zuhause aber auch gar nicht das Haus, in dem man wohnt, sondern woanders. Die Kneipe, die Tankstelle, die Bibliothek, – Orte, an denen man sich aus oft unbewussten Gründen wohler fühlt als dort, wofür man die Miete überweist oder die Kreditraten abzahlt.
Blochs Wort von der Architektur als Produktionsversuch menschlicher Heimat hat seine Gültigkeit nicht nur für das einzelne Individuum, sondern auch für größere Areale, zuweilen für ganze Städte. Wie etwa Brasilia. Vom deutschen Architekten Oscar Niemeyer auf dem Reißbrett entworfen, wurde es ab 1956 zur Kapitale des Landes ausgebaut. Fernab von Rio de Janeiro und hoch in den Bergen des Landesinneren gingen die Arbeiten unter schwierigsten Bedingungen vonstatten. 1600 Kilometer weit musste Baustahl herantransportiert werden, 1200 Kilometer weit das Bauholz. Der Flugplatz war 190 Kilometer, der Bahnhof 120 Kilometer entfernt. Staatspräsident Juscelino Kubitschek sah in der neuen Hauptstadt "die originellste und genaueste Verkörperung der kreativen Intelligenz des modernen Brasilien". Brasilia sollte helfen, sich mit den modernen Betonbauten und den breit angelegten Prachtstraßen von der Geschichte der Kolonialisierung zu emanzipieren, die Armut zu beseitigen und das gesellschaftliche Chaos Schritt für Schritt in relativ geordnete Bahnen zu lenken. Hier "sprach" eine ganze Stadt von Träumen und Sehnsüchten eines Landes. Brasilia wurde zum Symbol eines neuen Brasilien und für die ganze Nation zum idealistischen Leitbild.
Totenhäuser, Pyramiden, prachtvolle Mausoleen und aufwendig gestaltete Denkmäler belegen eindrucksvoll, die Architektur dient nicht zuletzt der Erinnerung. Sie selbst wird spätestens dann zur Erinnerung, wenn sie den Status der Musealität erreicht. Denkmalschützer befinden Gebäude für erhaltenswert und setzen sich für den Rückbau bis zum möglichst originalgetreuen Urzustand ein. Die Menschen in der ehemaligen Arbeitersiedlung von Pessac mussten ihre Privatheit, keine achtzig Jahre, nachdem die ersten Bewohner eingezogen waren, den Vorgaben der Behörde unterwerfen, die die Renovierung angeordnet hat. Nach und nach ziehen sie aus. Interessenten für die leer werdenden Wohnungen sind, so hört man, vor allem – Architekten.
<p class="em_text">Erschienen im "Wiener Journal" vom 1. März 2013
LITERATUR UND FILM:
Glück und Architektur – Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein von Alain de Botton; 287 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2008
Pessac – Leben im Labor von Claudia Trinker, Julia Zöller, 52 Min., Ö/2004