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Ein Deal mit Tücken

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Bei der Suche nach Lösungen in der Flüchtlingskrise ist die EU auf die Unterstützung der benachbarten Türkei angewiesen. Doch das Ausmaß der Zugeständnisse an Ankara war beim EU-Gipfel heftig umstritten.


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Brüssel. Die Brüsseler Verkehrsbetriebe zeigten sich optimistisch. Auf ihren Anzeigentafeln kündigten sie an, dass die U-Bahn-Station am Schuman-Platz heute, Freitag, schon um zwei Uhr nachmittags wieder geöffnet werde. Wie bei jedem Gipfeltreffen wurde sie auch gestern, Donnerstag, geschlossen, als die EU-Staats- und Regierungschefs im darüber liegenden Ratsgebäude zu ihrer zweitägigen Sitzung zusammen kamen. Dass diese wie üblich nach einer langen Nacht am frühen Freitagnachmittag wieder enden würde – davon gingen also die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel in der belgischen Hauptstadt aus.

Etliche EU-Diplomaten, Politiker und Journalisten teilten diese Zuversicht aber nicht. Immerhin stand beim Gipfel einmal mehr die Suche nach Lösungen in der Flüchtlingskrise auf der Agenda. Und ein höchst umstrittener Deal: jener mit der Türkei, die der Gemeinschaft beim Schutz der Außengrenzen und der Eindämmung der Flüchtlingsströme helfen soll. Dafür sind die Europäer zu weit reichenden politischen und finanziellen Zugeständnissen bereit.

Zypern droht mit Blockade

Doch genau die sorgen gleichzeitig für Unmut unter den Mitgliedstaaten. Daher war der Diskussionsbedarf hoch, auch wenn sich die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondertreffen mit ihrem türkischen Amtskollegen in der Vorwoche schon auf Grundzüge der Vereinbarung mit Ankara geeinigt hatten. Und daher war ebenso nicht klar, ob es lediglich bei einer Frühstücksdebatte mit Premier Ahmet Davutoglu bleiben würde, die für den heutigen Freitag angesetzt wurde. Es könnte mehr Zeit nötig sein, um die Details zu fixieren. Die Küche sei jedenfalls angehalten, für ein mögliches Mittagessen gerüstet zu sein, scherzte ein ranghoher EU-Diplomat im Vorfeld der Sitzung.

Doch selbst untereinander rangen die EU-Regierungen bis in die Nacht hinein um eine Einigung. Denn aus etlichen Hauptstädten kamen Einwände gegen die Vereinbarung mit der Türkei – freilich aus unterschiedlichen Gründen. Zypern beispielsweise drohte bereits mit einer Blockade der Beitrittsverhandlungen mit Ankara: Der Eröffnung weiterer Gesprächskapitel, wie im Abkommen vorgesehen, könne es nur zustimmen, wenn die Türkei ihre Verpflichtungen erfüllt.

Dazu gehört die Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für zypriotische Schiffe und Flugzeuge. Die sind nämlich bis jetzt geschlossen: Im Gegensatz zum Rest der Welt erkennt die Türkei lediglich den Norden der geteilten Mittelmeerinsel an, wo seit gut 40 Jahren türkische Truppen stationiert sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung in Nikosia die Verhandlungen blockiert – um dann aber wieder zu einem gewissen Entgegenkommen bereit zu sein.

Flüchtling gegen Flüchtling

In Österreich – wie unter den Christdemokraten in Deutschland – regte sich wiederum Widerspruch gegen die Visafreiheit, die den Türken schon ab Juni in Aussicht gestellt wird. Bundeskanzler Werner Faymann warnte davor, einen "Abtausch" mit Ankara zu machen. Für die Befreiung von der Visumspflicht müsste die Türkei 72 technische aber auch gesetzliche Voraussetzungen erfüllen, was ihr bisher erst zur Hälfte gelungen ist.
Massive Bedenken gab es ebenfalls gegen die Pläne, alle in Griechenland ankommenden Migranten wieder in die Türkei zurückzuschicken und für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling direkt aus dem Nachbarland nach Europa umzusiedeln. Dieser "Eins zu Eins"-Mechanismus, von Menschenrechtsorganisationen als unzulässiger Flüchtlingstausch kritisiert, wurde nicht nur von Ländern wie Ungarn abgelehnt, das von vornherein gegen die Umverteilung von Asylwerbern innerhalb der EU war. Frankreich hat ebenso schon angekündigt, keine zusätzlichen Schutzsuchenden aufnehmen zu wollen. Großbritannien will mit weiteren Kontingenten ebenfalls nichts zu tun haben.

Dennoch bemühten sich die EU-Institutionen wie die Kommission, das "Eins zu Eins"-Verfahren den Ländern näherzubringen. So könnten zunächst einmal 18.000 Plätze zur Verfügung gestellt werden: Diese sind Teil eines Beschlusses der Mitgliedstaaten, 22.000 Flüchtlinge direkt aus Syrien-Anrainerstaaten wie Libanon, Jordanien oder eben der Türkei zu übernehmen. Außerdem gibt es noch ein zweites Kontingent: 54.000 Plätze, die zur Entlastung Ungarns vorgesehen waren. Da aber Budapest die EU-Vereinbarung zur Umsiedlung von insgesamt 120.000 Menschen nicht mitgetragen hat, blieb der ungarische Anteil ungenützt.

Schwierige Umsetzung

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel warb einmal mehr für den Deal mit Ankara. Diesen sieht sie als ein Schlüsselelement in den Plänen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme an. Rechtliche Bedenken dagegen wollte sie nicht gelten lassen. Bei einem Abkommen sei sicherzustellen, dass die individuellen Rechte von Flüchtlingen gewahrt bleiben – etwas, woran Hilfsorganisationen Zweifel hegen.

Nicht nur sie. Auch die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite befand vor dem Treffen mit ihren Amtskollegen: "Wir bewegen uns am Rande des internationalen Rechts." Das Abkommen mit der Türkei beinhalte einen "komplizierten Mechanismus". Dessen Beschluss sei erst der Anfang. Die Umsetzung jedoch werde schwierig.

Auch die Mahnungen von Skeptikern, die Europäer kommen den Türken zu weit entgegen, sind für Grybauskaite nicht völlig haltlos. Als "Geisel" Ankaras sieht die Präsidentin die Gemeinschaft dennoch nicht. Doch die Situation ist verfahren – und die Gefahr groß, dass "wir Geiseln unserer selbst sind". n