Für Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist die EU zu großen Zugeständnissen an die Türkei bereit.
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Brüssel. "Wir sehen uns bald wieder." Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wirkte nicht gequält, als sie nach zwölfstündigen Beratungen im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs in der Nacht auf Dienstag, vor Journalisten auf ihren nächsten Medienauftritt in Brüssel verwies. Denn das Sondertreffen mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoglu hat aus ihrer Sicht derartige Fortschritte gebracht, dass die Details der Vereinbarung bis zum nächsten regulären EU-Gipfel durchaus fixiert werden könnten. Die Zusammenkunft findet immerhin schon in der kommenden Woche statt.
Es war ein, wie Merkel mehrmals betonte, "qualitativ neuer Vorschlag", den Davutoglu auf den Tisch gelegt hatte. Und er dürfte so mancher europäischen Regierung, allen voran der deutschen, derart verlockend sein, dass ihr der Preis dafür nicht zu hoch erscheint. Denn Ankara bietet an, alle "neuen irregulären Migranten, die von der Türkei aus auf den griechischen Inseln ankommen", wieder zurückzunehmen. Das würde auch syrische Flüchtlinge betreffen, die illegal in die EU gelangen. Im Gegenzug aber würde die Union Syrer direkt aus der Türkei umsiedeln, die dorthin vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflohen sind.
Für die EU ergäben sich auf den ersten Blick gleich mehrere Vorteile. Die Zahl der Ein- und durch die EU-Staaten Durchreisenden würde sich stark reduzieren, worauf die Regierungen seit Wochen pochen. Außerdem wäre ein Geschäftsmodell der Schlepper stark angeschlagen: Wenn Menschen, die illegal in die EU gebracht werden, ausnahmslos die Abschiebung droht, werden sie die Überfahrt nicht mehr auf sich nehmen. Stattdessen soll eine Tür für eine legale Einreise geöffnet werden - über Kontingente aus der Türkei.
Die EU-Beitrittskandidatin zeigt sich kooperativ. Doch das gibt es nicht ohne Gegenleistung. Von der EU, die beim Schutz ihrer Außengrenzen auf ihre Nachbarin angewiesen ist, wünscht sie sich eine Beschleunigung der EU-Gespräche sowie baldige Visafreiheit für ihre Bürger. Die dürfte denn auch schon Ende Juni Realität werden.
Rechtliche Bedenken
Finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei selbst wurde ebenfalls zugesagt: Drei Milliarden Euro hat die EU bereits beschlossen; weitere Hilfsmittel sind nicht ausgeschlossen. Erst vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission eine Auszahlung in Höhe von 95 Millionen Euro angekündigt. Das Geld soll nicht in die Staatskasse fließen, sondern - nach Konsultationen mit Hilfsorganisationen - in Projekte für syrische Schutzsuchende, in Schulbildung für Kinder, in die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln.
Die Aussicht auf eine mögliche baldige Reduktion der Flüchtlingsströme ließ beim EU-Gipfel mahnende Stimmen nur aus dem Hintergrund durchklingen. Auf die Bedeutung der Pressefreiheit wiesen zwar sowohl der französische Staatspräsident François Hollande als auch der luxemburgische Premier Xavier Bettel hin. Doch hat das auf die türkischen Medienhäuser, die in den vergangenen Tagen unter die Zwangsaufsicht der Justiz gestellt wurden, keine Folgen. Unter staatlicher Kontrolle ist nicht nur eine der größten Zeitungen, "Zaman", sondern mittlerweile ebenso die Nachrichtenagentur Cihan. Auch andere Einwände, wie jene des österreichischen Bundeskanzlers Werner Faymann, dass sich die Gemeinschaft nicht ausschließlich auf die Regierung in Ankara verlassen sollte, fanden bei der Sitzung in Brüssel kaum Resonanz.
Ähnlich verhält es sich mit rechtlichen Bedenken. Die Details des Abkommens zur Rückführung von Migranten gilt es noch bis zur Zusammenkunft der Spitzenpolitiker in gut einer Woche zu klären, heißt es aus Berlin und der EU-Kommission. Die Regelung werde jedenfalls rechtskonform sein, versicherte ein Sprecher der Brüsseler Behörde nur.
Internationale Organisationen haben da allerdings ihre Bedenken. Die Vereinten Nationen etwa befürchten mögliche Verletzungen des Völkerrechts, wenn Massenabschiebungen in die Türkei beginnen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR sollte ein Asylwerber nur dann in einen Drittstaat zurückgeschickt werden, wenn dieser seinen Antrag bearbeiten und unter Umständen anerkennen kann sowie der Schutzsuchende vor einer Auslieferung in sein Herkunftsland sicher ist. Gesuche von Afghanen und Irakern erkenne die Türkei aber kaum an. Die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl warnte, mit der Vereinbarung werde das Leben eines Eritreers, der vor dem Militärregime fliehe, oder das eines irakischen Flüchtlings gegen das Leben eines Syrers ausgespielt.
Hinzu kommt, dass die Türkei nicht allen als sicheres Drittland gilt. Dazu hat zwar Griechenland seine Nachbarin erklärt, aber nicht die gesamte EU. Darauf weisen auch die Grünen im EU-Parlament hin. Für einige Abgeordnete aus ihren Reihen ist der Deal mit der Türkei daher ein Abschied der Union "von einem System der Schutzverantwortung". Ebenso gibt es Warnungen vor einer Erpressbarkeit der Gemeinschaft.
Solche Bedenken wischt Kanzlerin Merkel weg. Sie bevorzugt ein anderes Wort: "Interessensausgleich".
Eckpunkte der Vereinbarung:
1. Rückführung aller Migranten, die unerlaubt aus der Türkei auf die griechischen Inseln übersetzen. Die Kosten trägt die EU.
2. Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge durch die EU-Staaten von der Türkei aus.
3. Visafreiheit für Türken spätestens ab Ende Juni.
4. Die Auszahlung von drei Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe in der Türkei soll schneller erfolgen.
5. Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen.